Ein letzter Gefallen

7.1K 208 1
                                    

Die letzten Tage waren gefüllt mit Schule, lernen, Freunde treffen und abends im Bett liegen und über Etienne nachdenken. Das, was ich sagte als Milo in die Küche kam, habe ich ernst gemeint. Es ist, als ob sich ein Schalter umgelegt hat. Ich habe Etiennes wahres Ich gesehen und nicht die Fassade, die er als mein großer Bruder errichtet hat. Dieses Ich war nicht das, zu dem ich aufgeschaut habe und auch nicht das, auf das ich mich immer verlassen konnte. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben, auch wenn ich es nicht direkt abstellen kann, ihn zu vermissen. Dennoch sitzt der Schock darüber, wie sehr er mich und unsere Mutter getäuscht hatte, tief. Aber auch darüber werde ich irgendwann hinwegkommen. Auf jeden Fall würde ich Maman niemals sagen, weshalb er wirklich verschwunden ist. Sie erholt sich von dem Schock, in den er sie versetzt hat und war die vergangene Woche dreimal arbeiten. Das war eine ziemliche Erleichterung, denn ich habe noch immer keinen neuen Job.

„Hallo?", sage ich als ich den Anruf auf meinem Handy annehme. „Hey.", ertönt die Stimme von Milo. „Ich soll dir von Mat ausrichten, dass du heute Nachmittag zu uns kommen sollst." „Ok, und warum?", frage ich irritiert. Die letzten Tage hatte ich nichts mehr von ihm oder den anderen gehört, was aber nicht hieß, dass ich nicht oft über ihn nachgedacht hatte. "Komm einfach.", sagt er ungeduldig und legt auf. "Toll.", seufze ich.


"Herein.", ruft Mat durch die Tür hindurch. Ich betrete vorsichtig das Büro. Er steht am Fenster und scheint draußen irgendetwas zu beobachten. "Hey.", sage ich und muss unwillkürlich lächeln. "Hey, setz dich.", antwortet er und zeigt auf die Stühle an dem runden Tisch. Er verharrt noch kurz vor dem Fenster und setzt sich dann seufzend in Bewegung. "Emre und Jason versuchen gerade ihre Motorräder auf Vordermann zu bringen. Ich habe selten etwas so trauriges gesehen.", erklärt er und schüttelt den Kopf. Ich muss kichern.

"Julie, ich muss dich um einen letzten Gefallen bitten.", beginnt er nachdenklich. "Und der wäre?", frage ich aufgeregt. "Du hast von den Schießereien gehört?" Ich nicke. In den vergangenen Tagen hat sich die Situation auf den Straßen verkompliziert. Es gab weitere Schießereien und niemand fühlte sich abends mehr sicher auf den Straßen. "Das waren die Russen von denen Fabio dir erzählt hat." Er spielt unruhig mit seinen Händen und die Tatsache, dass er so nervös ist, lässt nichts Gutes verheißen. "Diese Arschlöcher haben uns bedroht und ich habe den Grund zur Annahme, dass sie morgen versuchen werden, Milos Schwester zu entführen." Entsetzt blicke ich ihm entgegen und versuche seine Worte zu verarbeiten. "Zu Entführen?", frage ich und fahre mir mit der linken Hand über mein Kinn. "Ja. Sie wollen uns erpressen, damit wir ihnen einige Geschäfte überlassen, aber das wird nicht passieren." Sein Kiefer bebt, während er versucht mir ruhig zu erklären, was los ist. "Wie kann ich helfen?", frage ich, um ihn aus seinen Gedanken zu holen.

"Wir sind uns ganz sicher, wann sie kommen werden und haben einen Plan entwickelt. Nicht Milos Schwester wird dort sein, sondern du. Und wenn sie versuchen dich mitzunehmen, werden wir einschreiten und diese Bastarde fertig machen. Sie werden nicht so viele Leute dafür mitnehmen, aber der Anführer wird ganz sicher dabei sein." Er schaut mir so tief in die Augen, dass es schon unangenehm ist. "Verstehe, es ist besser für euch, wenn sie mich vielleicht entführen, anstatt Milos Schwester.", sage ich enttäuscht. Wie konnte ich auch nur denken, irgendetwas für ihn darzustellen, außer einen Lockvogel? "Nein.", sagt er streng. "Nichts davon ist besser für uns. Milos Schwester kann dabei nicht mitmachen und deswegen brauchen wir dich." "Und wenn ich nicht will? Wer weiß, was diese Typen mit mir machen?", frage ich aufgelöst. "Sie werden gar nichts mit dir machen, weil wir da sein werden, verstanden?", sagt er und beugt sich zu mir vor. "Wieso kann sie nicht mitmachen?" Auf die Erklärung bin ich gespannt. Wieso kann sie sich nicht einfach hinsetzen und darauf warten, vermeintlich entführt zu werden? "Sie ist schwanger.", seufzt Mat. Okay, das ist ein Grund. "Achso.", murmle ich und habe sofort ein schlechtes Gewissen. "Das ist das letzte Mal, danach bist du frei.", ermutigt Mat mich. "Oder tot.", füge ich an. Meine Fantasie eskaliert gerade zu bei dem Gedanken, was alles schief laufen könnte. Was, wenn sie sie gar nicht entführen, sondern sofort töten wollen? Oder andere, schlimme Dinge mit ihr anstellen wollen?

Panisch schüttle ich den Kopf und springe auf. Ich will hier nur noch weg. Es ist eine Sache, sich mit einem Typen auf einer Party mit vielen Menschen drum herum zu unterhalten und eine andere, sich bewusst in so eine Gefahr zu bringen. Bevor ich die Tür erreiche, hält Mat meine Hand fest und dreht mich unsanft herum. Ich gerate in Straucheln und mache einen Schritt nach hinten, sodass ich mit dem Rücken gegen die Wand falle. Er stellt sich direkt vor mich und ich muss zu ihm hochschauen. Sein Blick ist undefinierbar, doch seine Augen sind kalt. "Du schuldest mir noch etwas." "Aber nicht mein Leben.", antworte ich. Ich schaue zu Boden und versuche die Tränen, die eher durch Wut als durch Trauer entstanden sind, zurück zu halten. Plötzlich greift er mit einer Hand unter meinen Unterkiefer und hebt meinen Kopf an. Sein Griff ist fest, aber tut mir nicht weh. "Ich brauche dich dafür. Ich habe dich schon einmal gefragt, ob du mir vertraust und du hast ja gesagt, schon vergessen?", erinnert er mich. "Nein.", flüstere ich. "Dann vertrau mir jetzt nochmal, ein letztes Mal. Wir gehen gleich runter in den Keller, du wirst boxen. Ich werde dir ein paar Sachen zeigen, mit denen du dich gut verteidigen kannst. Du wirst sie nicht brauchen, aber du wirst dich vielleicht sicherer fühlen." Das war keine Frage, das war eine klare Ansage von ihm. Er lässt vorsichtig von mir ab und öffnet die Tür.

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Kde žijí příběhy. Začni objevovat