Neustart

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Wie jedes Mal wurden wir am nächsten Tag eines besseren belehrt: Es gibt sehr wohl einen Morgen. Meine Kopfschmerzen übertrafen alles und ich war dankbar dafür, die Schmerztabletten mit zu Vito genommen zu haben. Als ich die Packung aus meiner Tasche holte, seufzte ich tief. "Fuck." Da war er wieder: Mat. Ich hätte mir eigene Tabletten kaufen sollen, denn in solchen Momenten erinnert jede Kleinigkeit an die Person, die man doch eigentlich nur vergessen möchte. Je später es gestern wurde, desto weniger musste ich an ihn denken und kurz hatte ich das Gefühl, es würde funktionieren.

"Kann ich auch eine haben?", brummte Steph neben mir. "Klar.", sagte ich und flößte ihr direkt eine Tablette ein. "Es hat nicht funktioniert, oder?", fragt sie schläfrig. "Es war ein guter Anfang.", versuche ich sie zu beschwichtigen. Das war es doch, oder?

Ich muss nochmal eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffne, liege ich allein im Gästezimmer. Mit müden Knochen und wiederkehrenden Kopfschmerzen raffe ich mich auf und begebe mich in die Küche. "Guten Morgen, Mademoiselle.", singt Vito, der zusammen mit Steph, Lenny und Jasper am Esstisch sitzt. "Guten Morgen.", brumme ich. Die Kaffeemaschine ist bereits eingeschaltet, also stelle ich lediglich eine leere Tasse hinein und freue mich auf mein persönliches Lebenselixier. "Man, war das ein heftiger Abend.", stellt Jasper müde, aber dennoch freudig fest. "Ich sag's euch. Wieso sind wir nochmal in die Bar gegangen?", fragt Steph und legt ihren Kopf auf den Tisch. Moment, wir waren in einer Bar?

Verwirrt drehe ich mich um. "Was für eine Bar?" Die anderen lachen los. Ich kann doch nicht wirklich vergessen haben, dass wir noch losgezogen sind - oder etwa doch? "Mensch, Julie, wir sind doch noch in den Irish Pub gegangen.", erklärt Lenny mir endlich. "Lass sie in Ruhe. So voll wie sie war, wird sie sich kaum daran erinnern." In meinem Kopf rattert es, ich versuche mich krampfhaft an den gestrigen Abend zu erinnern. Ich weiß noch genau, wie wir auf dem Sofa saßen, wie wir ein paar Trinkspiele spielten und wann die Musik lauter wurde. Aber irgendwann setzt meine Erinnerung aus. "Scheiß Schlussstrich-Trinken.", fluche ich. "Dann kannst du dich auch nicht mehr an den süßen Typen mit den braunen Augen und den Locken erinnern?", grinst Steph und zieht eine Augenbraue hoch. "Was?", pruste ich, als ich gerade meinen ersten Schluck Kaffee trinken will.

"Ai ai ai, der arme wartet bestimmt schon auf eine Nachricht von dir.", grinst Vito. "Leute, wenn ihr mich verarscht, bringe ich euch um.", warne ich sie und schaue durch die Runde. Normalerweise kann Jasper sich ein Grinsen nicht verkneifen, wenn jemand von uns geprankt wird, doch er sieht mich absolut ehrlich an. Entweder hat er diesen Blick geübt oder sie sagen die Wahrheit. Steph schüttelt energisch den Kopf. "Nein, den Typen gibt es wirklich und du hast gestern ordentlich mit ihm geflirtet. Wie heißt er noch gleich? Brad?" "Bryan.", korrigiert Jasper sie. "Stimmt, Bryan." Kopfschüttelnd hole ich mein Handy aus der Tasche. Der Akku ist fast leer, doch für einen kurzen Blick auf meine Nachrichten und Kontakte reicht es noch. Und tatsächlich, eine nicht eingespeicherte Nummer hat mir eine Nachricht geschrieben. Ich hoffe, du bist gut zu Hause angekommen. Oh, shit! Dahinter ist ein Kuss Emoji. "Fuck.", fluche ich und massiere mir die Stirn. Die Kopfschmerzen werden gerade viel, viel schlimmer.

"Was genau war mit diesem Bryan?", frage ich vorsichtig und setze mich zu den anderen an den Esstisch. Steph zieht ihre Beine an und umschlingt sie mit ihren Armen. Ihren Kopf legt sie auf ihre Knie und schaut mich prüfend. "Eigentlich nichts. Ihr habt euch auf der Tanzfläche kennengelernt und seid irgendwann an die Bar verschwunden. Ich glaube, ihr habt euch geküsst, zumindest hast du auf dem Rückweg so etwas erzählt." Oh Gott, ich habe mit jemandem rumgemacht, den ich gar nicht kenne und an den ich mich nicht einmal erinnere. Ich schüttle ungläubig den Kopf. Das darf doch alles nicht wahr sein. "Ich werde nie wieder einen Schlussstrich ziehen, zumindest nicht auf diese Weise." "Naja, so wirklich hast du das den ganzen Abend eh nicht getan. Wenn ich mich recht erinnere, hast du Mat an die 50 Mal erwähnt.", macht Jasper sich über mich lustig. Nun lege ich meinen Kopf auf den Tisch. "Es tut mir Leid, Leute."

"Du solltest Bryan eine Chance geben.", sagt Steph schließlich. "Er schien nett zu sein." Ich raffe mich auf und schaue mir seine Nachricht erneut an. "Ich weiß nicht.", murmle ich. "Komm schon. Was hast du zu verlieren? Ein bisschen Ablenkung würde dir gut tun." Ich seufze und tippe die ersten Worte in mein Handy, die ich dann aber doch wieder lösche. Erstmal speichere ich seine Nummer ein. Ich schaue mir sein Profilbild an, das ihn mit einer Gitarre zeigt. Er lächelt frech in die Kamera und sieht unverschämt gut aus - auch wenn er eigentlich nicht mein Typ ist. "Also schön.", brumme ich und antworte ihm, dass ich gut zu Hause angekommen und gerade erst aufgewacht bin. Es dauert nicht lange, da blinkt mein Handy erneut auf. "Der antwortet aber schnell.", stellt Lenny fest. "Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?", frage ich an die Männer gewandt. "Kommt drauf an.", antworten alle drei fast synchron.

Ich wollte unbedingt nach Hause und unter die warme Dusche, bevor ich Bryan erneut antworten würde. Für so etwas brauche ich einen klaren Kopf - und meiner fühlt sich immer noch an wie Brei. Nachdem ich also den ersten Kaffee getrunken habe, begebe ich mich auf den Heimweg. Die Sonne brennt mir in den Augen und ich schaue die meiste Zeit nur auf den Bürgersteig, bis ich fast eine ältere Dame anremple. Sie sieht mich an und schüttelt abschätzig den Kopf. Ich kann es ihr nicht verdenken, ich würde mich gerade selbst nicht gerne sehen wollen. Mein Make-Up von gestern muss komplett verschmiert sein.

Nach einer warmen Dusche schlüpfe ich in meine Jogginghose und einen dicken Pullover. Ich würde mich gerne auf die Couch legen, aber dort macht Maman ihren Mittagsschlaf. Durch die Depression ist ihr Alltag völlig verdreht. Sie schläft ungefähr 17 Stunden am Tag und ist wenn überhaupt 7 Stunden auf den Beinen. Davon arbeitet sie an guten Tagen 5 Stunden. Weil ich sie nicht stören will, schmeiße ich mich auf mein Bett und lese mir die neueste Nachricht von Bryan durch. Wir schreiben ein bisschen über unseren Tag und was wir so in der Freizeit machen. Ich erzähle ihm von meinem Job im Diner und er gesteht, dass er mich dort schon einmal gesehen hat. Kurz überkommt mich ein komisches Gefühl, dass nach Stalker schreit, aber das beruhigt sich schnell wieder, als er mir ein Foto von sich und seiner Zwillingsschwester schickt. Ich muss unwillkürlich an Etienne denken und mein Magen zieht sich zusammen.

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora