Rooftop Bar

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"Ich glaub's einfach nicht.", schimpfe ich. "Das ist noch ein Grund, wieso ich mich mit dir treffen wollte. Als ich am nächsten Morgen wieder klar im Kopf war, ist mir ziemlich schnell bewusst geworden, dass du dir vorher noch nie etwas eingeworfen hast. Ich wollte es dir unbedingt sagen.", gesteht er. Seine braunen Augen sehen mich aufrichtig an und ich führe einen inneren Kampf. Meine Wut schwindet durch seine mitfühlenden Worte, doch ein Grundgedanke bleibt: Er ist ein Junkie. Naja, ob er wirklich einer ist, weiß ich nicht, aber er nimmt auf jeden Fall Drogen. Gras ist das eine, aber alles andere ist für mich immer ein Tabuthema gewesen, mit dem ich absolut nichts zu tun haben wollte.

"Kannst du dir bitte etwas zu trinken bestellen und mit mir reden?", fragt Bryan nach einigen stillen Minuten zwischen uns. Ich sollte seine Nummer löschen und gehen, doch die Vernunft verliert gegen die Neugier. "Ein Drink, dann gehe ich.", sage ich so streng wie möglich. "In Ordnung, danke.", antwortet er erleichtert mit einem Hundeblick.

Ich schlürfe an meinem Gin Tonic, während er mir erklärt, was ich da überhaupt genommen habe. Immer wieder schweife ich ab und versuche mir über den Fakt klar zu werden, dass ich eine Partydroge genommen habe. Wann war ich so leichtsinnig und dumm geworden? Noch vor kurzer Zeit konnte ich so voll wie nur möglich sein und hätte so ein Zeug niemals angerührt. "Ich nehme es ab und zu auf Partys, aber mehr auch nicht. Man hat damit eine noch bessere Zeit und keine großen Nebenwirkungen.", beendet Bryan sein Entschuldigungs-Plädoyer. "Okay.", murmle ich gedankenverloren. "Du willst nicht mehr mit mir reden, oder?", fragt er enttäuscht. Ich schüttle den Kopf. "Das ist es nicht. Ich wundere mich nur über mich selbst. Egal in welchem Zustand, so etwas hätte ich früher nie genommen.", gestehe ich. "Naja, vielleicht wolltest du einfach mal der Realität entfliehen. Etienne und Mat scheinen dir sehr zugesetzt zu haben." Als er ihre Namen ausspricht, zucke ich zusammen. "Sag ihre Namen nicht.", fahre ich ihn an. "Entschuldigung.", füge ich sofort hinzu. Was ist nur los mit mir?

"Hey, ist schon in Ordnung. Ich habe das Gefühl, beide haben dein Leben ganz schön durcheinander gebracht. Ich kenne das...", er atmet schwer ein und wieder aus. "Man weiß plötzlich nicht mehr, wer man überhaupt ist und stellt alles um einen herum in Frage." Mein Blick hebt sich erstmalig und ich sehe ihm überrascht in die Augen. Er spricht genau das aus, was ich fühle. "Man tut Dinge, die man selbst nie für möglich gehalten hat, einfach um etwas anderes als Frust zu spüren. Das ist in Ordnung, das ist menschlich...", sagt er sanft. Ich muss schmunzeln und spiele an meinem Glas herum. "Du hast vollkommen recht."

Aus einem Getränk wurden drei und nachdem wir uns geeinigt haben, nicht mehr über unsere erste Begegnung zu sprechen, ist der Abend plötzlich viel besser. Bryan erzählt mir, dass er manchmal ehrenamtlich in dem Waisenhaus um die Ecke Gitarre spielt, um den Kindern eine Freude zu machen. Er gibt einigen sogar kostenlose Übungsstunden. "Das ist toll.", lächle ich. "Genug davon. Hast du Lust vielleicht doch noch woanders hinzugehen?", fragt er mit einem verschmitzten Lächeln. "Was schwebt dir denn vor?", lache ich und trinke schon mal vorsorglich den Rest meines Gin Tonics. "Kennst du die Rooftop Bar in der Nähe der Sporthalle?" Und ob ich die kenne. Die Bar hat letzten Sommer erst eröffnet und jeder wollte dort gesehen werden. Leider wurde meinen Mitschülern und mir ein Strich durch die Rechnung gemacht, weil dort akribisch nach dem Ausweis gefragt wird. "Dort werde ich nicht reinkommen.", seufze ich. "Ich bin erst 17." Überrascht sieht Bryan mich an. "Wow, ich hätte dich auf 19 geschätzt. Aber gut, ich finde einen Weg und du kommst mit?"

Als wir vor dem Eingang stehen, mache ich mir wenig Hoffnung. Ich bin nicht einmal richtig für diese Bar gekleidet. Bryan stellt sich neben den Türsteher und spricht ihn an. Sein Blick liegt dabei auf mir, was mir irgendwie unangenehm ist. Ich tippe von einem Fuß auf den anderen und schaue in die Ferne. Der Blick von hier oben ist unfassbar schön. Die ganze Stadt ist beleuchtet und die Autos sehen so klein aus. Ich versuch gerade mein zu Hause ausfindig zu machen, als Bryan meinen Arm packt. "Komm, lass uns reingehen." Ich ziehe meine linke Augenbraue hoch, folge ihm aber an den Türstehern vorbei bis wir vor der Theke stehen. "Wie um alles in der Welt hast du das geschafft?", frage ich ungläubig. "Ich bin gut darin, Leute zu überzeugen.", antwortet er geheimnisvoll. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Da hat er nicht ganz unrecht, immerhin hätte ich niemals gedacht, heute länger als nötig mit ihm Zeit zu verbringen.

Wir finden einen schönen Platz am Rand, sodass wir die Aussicht genießen können. "Es ist so wunderschön hier.", sage ich und lächle, während ich weiter aus dem Fenster starre. "Finde ich auch.", sagt Bryan, doch anstatt aus dem Fenster zu schauen, starrt er mich an. "Auf einen schönen Abend.", prostet er mir zu. "Auf einen schönen Abend.", wiederhole ich seine Worte.

Ich bin ziemlich angetrunken, als Bryan mit seinem Stuhl zu mir rückt. Wir lachen über die absurdesten Dinge und beobachten die Menschen um uns herum. "Siehst du die Frau in dem roten Kleid?", fragt er und duckt sich zu mir. "Ja." bestätige ich. "Sie scrollt gerade gelangweilt durch Instagram, während ihr Typ heimlich Selfies von sich macht. Ich wette, die beiden werden gleich eine Story hochladen, in der sie so glücklich wie nie zuvor aussehen. Der Standort darf dabei natürlich nicht fehlen.", flüstert er. Und wenige Sekunden später hebt sie ihr Handy und signalisiert ihrem Gegenüber, sich näher an sie heran zu setzen. Sie lächeln ihr schönstes Lächeln, um ihre Stühle anschließend wieder auseinander zu rücken. Ich sehe Bryan fassungslos an, der grinsend sein Glas ansetzt. Dann lache ich laut los. "Das ist unfassbar traurig." Er nickt.

"Julie?", höre ich eine Stimme hinter mir.

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Where stories live. Discover now