Vorfreude

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Ich las den kompletten Brief noch einmal, weil ich mir nicht sicher war, ob ich mich verlesen hatte.
Aber der Inhalt änderte sich nicht.
Grübelnd fühlte ich in mich hinein.
Wo sind die Tränen?
Warum sitze ich noch nicht heulend zusammengekauert auf dem Boden?

Kurz hatte ich Angst, dass sich eine Gleichgültigkeit in mir ausbreitete, aber das war es nicht. Es war etwas ganz anderes. Es war derselbe Frieden, den ich hatte, bevor ich den Brief öffnete.

Obwohl dieser Brief rein menschlich gedacht so gar nicht ok war, war es aber irgendwie ok. Das Gefühl in mir, dass alles in Ordnung war, war so stark, sodass gar kein anderes Gefühl mehr in mir Platz hatte. Ich hatte das Gefühl, als würde Gott zu mir sagen: „Mach dir keine Sorgen." Und ich machte mir komischer Weise wirklich keine Sorgen.

Ich hätte einen weiteren Heulkrampf erwartet oder hätte komplett durchdrehen können. Ich hätte aus Wut irgendetwas zerstören können oder aus Trauer mich unter meiner Bettdecke begraben und 14 Tage nicht mehr hervorkriechen können.
Aber dazu fehlte mir jegliches Bedürfnis. In mir breitete sich stattdessen ein tiefer Frieden aus und ich wusste, dass alles Gut werden würde.
Wie dieses Gut aussehen würde, wusste ich noch nicht, aber ich war bereit darauf zu vertrauen.

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Eines Tages kam ich ins Café und ein Briefumschlag lag auf der Arbeitsplatte. Ich nahm ihn in die Hand, um zu prüfen, ob ich berechtigt war ihn zu öffnen. Er war ans Café adressiert.
Als ich ihn mehrmals von vorne nach hinten gedreht hatte, merkte ich, dass er schon geöffnet war. Umso verwirrte starrte ich auf ihn.

Da öffnete sich auf einmal die Schwingtür neben mir um einen Spalt und als ich mich in dessen Richtung drehte, blickte ich in Davids Gesicht.
Sein Blick schien zu prüfen, ob er berechtigt war sich in meine Nähe zu trauen. Da ich nicht auf ihn zu reagieren schien, drängte er sich langsam durch die Tür und ließ sie hinter sich zu fallen.

„Ist das von dir?",
fragte ich und hielt den Brief in die Luft.

„Schau rein",
meinte er nur.

Also faltete ich langsam das Blatt aus dem Umschlag auf.

Antrag bestätigt' stand in fett gedruckter Schrift ganz oben.

Ich teilte einen kurzen verwirrten Blick mit David.

Ihr Antrag zum Ausgeben von kostenfreien Kaffee wurde bestätigt. Bitte melden Sie sich bei uns baldmöglichst, damit wir die Eventualitäten prüfen können. Gerne sprechen wir mit Ihnen diesbezüglich über mögliche Termine.'

In meinem Blick müsste noch mehr Verwirrung als gerade eben gelegen sein.

Warum sollten wir irgendwo gratis Kaffee ausgeben?

Ich verstand nicht was dieser Brief sollte, also prüfte ich den Absender, dem ich bisher noch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

‚HM Prison Exeter'

Dreimal musste ich lesen, was da stand, bis ich es endlich kapierte.

Das war das Gefängnis, in welchem Rob sich befand.

Als mein Hirn dann auch 1 zu 1 zusammengezählt hatte, schnellte mein Kopf zu David.

„Wär das für dich in Ordnung?",
fragte er mich ernst.

„Wie, ob das für mich in Ordnung wäre?",
entgegnete ich ungläubig.

Natüüüürrrllliiicccch!!!
Wie könnte ich das bitte nicht in Ordnung finden???
Ich könnte Rob sehen und das ohne Probleme. Das war so eine unglaublich schlaue Idee!

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