Kapitel 16 - Erklärungs- und Versöhnungsversuche

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Kapitel 16 – Erklärungs- und Versöhnungsversuche

– Julie –

La Push, Oktober 2009


Ich hatte schon lange aufgegeben, Pauls Verhalten nachvollziehen können zu wollen, doch inzwischen war ich mir fast sicher, dass in ihm ein kleiner, kranker Soziopath steckte.
Dass er bei unserem letzten Gespräch tatsächlich meinte, sich plötzlich vernünftig zeigen und die Wogen glätten zu wollen, machte ihn in meinem Kopf nur noch verrückter.

Paul war kein Mensch von Vernunft, der von heute auf morgen Einsicht zeigen würde.
Und um ehrlich zu sein wollte ich mir darüber auch gar nicht länger den Kopf zerbrechen.
Ich für meinen Teil war ihm gegenüber ehrlich gewesen – ich wollte nicht länger mit ihm zu tun haben. Alles, was wir miteinander teilten, war der Wohnort.

Damit, dass bei Paul nichts mehr zu retten war, hatte ich mich inzwischen versucht abzufinden, doch womit ich nun zu kämpfen hatte, war nur schwer zu glauben.
Jacob Black war auf meiner Seite gewesen. Wie oft hatten wir beieinandergesessen, über die neu formierte Truppe um Sam den Kopf geschüttelt und uns darüber ausgelassen.
Ihn von heute auf morgen plötzlich wieder bei seinen alten Freunden zu sehen, war das Letzte, was ich erwartet hatte.

Nach allem, wie ich Jacob kannte und auch in den letzten Wochen noch einmal kennengelernt hatte, war er ähnlich verletzt gewesen wie ich und auch Lou, nachdem sich Kim von uns abgewandt hatte.
Es war schwer vorzustellen, dass er seine Meinung so plötzlich geändert hatte und doch hatte er mir zuvor genau das geschworen.

Ich musste gestehen, dass die Sache mit Bella – dass er ihr ohne mein Wissen von mir und Paul erzählt hatte – inzwischen in den Hintergrund gerückt war. Dass Jacob scheinbar in Sams Reihen gelandet war, war im Moment alles, woran ich denken konnte.
Vielleicht hatte ich gerade überreagiert, doch es wollte nicht in meinen Kopf, dass er mit einem Mal diesen Weg eingeschlagen hatte.

„Das klingt so gar nicht nach Jake", murmelte Lou nachdenklich, nachdem ich ihr berichtet hatte, was ich soeben mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hatte.
„Er war so enttäuscht und verletzt, der würde doch nicht plötzlich mit denen allen rumhängen."
„Aber ich hab's doch gesehen!"
„Ich glaub's trotzdem nicht!"

Da ging es mir ähnlich wie Lou. Irgendetwas stimmt da ganz gewaltig nicht, auch wenn ich nicht den geringsten Schimmer hatte, in welche Richtung dieses Gefühl führte.
„Vor allem könnte ich mir ja vielleicht noch vorstellen, dass er sich mit Quil und Embry ausspricht. Und vielleicht auch mit Lahote. Aber er würde sich doch nicht einfach auch Sam anschließen, er hat den so verteufelt!", dachte Lou laut nach.
„Nicht wahr?", stimmte ich ihr sofort zu. „Und hast du dir die Truppe schon mal genauer angeschaut? Da stimmt doch irgendwas nicht. Wie eng die alle plötzlich sind und wie sie überhaupt aussehen!"

Wieder nickte Lou und schien ganz meiner Meinung zu sein.
„Ich würd's ja noch verstehen, wenn sie alle dreizehn Jahre alt wären und Sam nacheifern würden, aber das sind – zumindest fast – erwachsene Männer! Und wir kennen die doch eigentlich, das ist... das ist alles so untypisch."
Oh ja, das war es. Alles, was sich um Sam herum abspielte, war ein scheinbar unlösbares Rätsel und ich hätte gut damit leben können, hätte er mir nun nicht auch noch Jacob, den ich wirklich liebgewonnen hatte, genommen.

„Apropos untypisch", hakte ich an dieser Stelle ein, um Lou noch etwas zu beichten. In letzter Zeit war so viel Schlag auf Schlag passiert, dass ich kaum mehr hinterherkam, ihr alles zu erzählen.
„Lahote hat mir gestern auch noch aufgelauert und gemeint, ob wir nicht einfach normal miteinander umgehen könnten."
Schon in der Mitte des Satzes hatte sich Lou bereits an ihrem Wasser verschluckt und starrte mich schockiert an, wartete aber noch darauf, dass ich weitersprach.
„Keine Angst, ich hab' ihn abgewiesen. Klar und deutlich, aber ohne ihm eine Szene zu machen."

Skeptisch runzelte Lou die Stirn und wischte sich etwas von dem verschütteten Wasser von ihrem Pullover.
„Was zur Hölle ist hier nur los", seufzte sie schließlich. „Aber Julie? Sei mal ehrlich."
Aufmerksam sah ich meine beste Freundin an.
„Stört es dich tatsächlich, dass Jake mit Sam rumhängt, oder ist es dir eher ein Dorn im Auge, dass er wieder mit Lahote befreundet zu sein scheint?"

Damit sprach Lou einen gar nicht so unwesentlichen Punkt an. Vorhin war mein Blick wirklich immer wieder über Jakes Schulter, hin zu Paul abgeschweift und sofort hatte sich ein Knoten in meinem Magen gebildet. Zugegeben – ich war erleichtert gewesen, als es danach aussah, dass Paul und Jacob getrennte Wege gehen würden. Dass er Paul nun doch wieder einen Platz in seinem Leben schenken wollte, war ein Schlag ins Gesicht.

Trotzdem warf ich ihr einen müden Blick zu.
„Naja, klar mach ich auch wegen Lahote keine Luftsprünge", räumte ich brummend ein. „Aber nein, natürlich geht es nicht um den, es geht um Jake und auch um Sam! Wir verlieren durch ihn unsere Freunde! Im Grunde hat uns Sam sogar auch Kim weggenommen."
Seufzend überlegte Lou für einen Moment.
„Ich weiß nicht, ob man dafür tatsächlich Sam verantwortlich machen kann", überlegte sie laut. „Sie alle sind erwachsen, da trifft man seine eigenen Entscheidungen."

Gerade wollte ich mich weiterhin über Sam und seine Gefolgschaft auslassen, um Lou auf meine Seite zu ziehen, doch sie kam mir zuvor.
„Und überhaupt hat Jake doch überhaupt nicht gesagt, dass er nicht mehr mit uns befreundet sein will. Ganz im Gegenteil, er ist doch sogar auf dich zugekommen."
Schon wieder wollte ich ihr dazu sofort etwas entgegensetzen, doch ich musste mir eingestehen, dass Lou wieder einmal recht hatte.

Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen konnte war, dass Jacob einen Tag mit seinen alten Freunden verbracht hatte und sich wohl mit ihnen ausgesprochen hatte - und, dass er sich in diese skurrile Gruppe eingefügt hatte.
Allerdings hatte er wirklich nicht den Anschein gemacht, als wolle er – anders als der Rest um Sam Uley – nichts mehr von mir wissen. Ganz im Gegenteil, er hatte sogar noch einmal betont, dass er mein Freund war.

Trotzig zuckte ich also mit den Schultern, was Lou triumphierend zur Kenntnis nahm.
Sie schien bei Weitem zuversichtlicher und optimistischer zu sein, was diese ganze Sache anging.

„Na also, warten wir doch einfach mal ab", redete Lou weiter. „Jacob wäre nicht der erste Mensch, der zwei getrennte Freundeskreise unter einen Hut kriegt."
Gerne wäre ich ebenso vertrauensvoll wie meine beste Freundin gewesen, doch etwas sagte mir, dass mit all dem, was um Sam herum passierte, etwas ganz gewaltig nicht stimmte.
Trotzdem beließ ich es vorerst dabei. Die Zeit würde schon zeigen, wohin all das in La Push führte.



In letzter Zeit war so unheimlich viel passiert. Es waren nicht wirklich große Ereignisse gewesen, doch gefühlt jeden Tag war etwas vorgefallen, was mich emotional so sehr in Anspruch genommen und mich wieder durcheinandergeworfen hatte, dass ich dringend etwas Erholung brauchte.
Zwei Tage lang hatte ich mich zurückgezogen, versucht runterzukommen und hatte keinerlei Verlangen, irgendwelche sozialen Kontakte zu pflegen.

Das Einzige, das ich hören wollte und mich zur Ruhe brachte, war in dieser Zeit Dillons Stimme, die ich auch bei jeder Gelegenheit hörte.
Er fehlte mir mehr denn je und gerade in solchen Momenten, in denen ich mich gefühlsmäßig so ausgelaugt fühlte, wünschte ich mir ihn an meine Seite.
Schon in London, als ich dank Paul an meinem Tiefpunkt angelangt war, hatte mich Dillon wieder aufgebaut und auch jetzt hätte er mich sicherlich davon abhalten können, mir unablässig all diese Gedanken zu machen.

„Ihr seid ein echt komisches Völkchen", hatte Dillon gesagt, als ich ihm alles erzählt hatte – alles, selbst von Pauls seltsamen Auftritten vor meinem Haus.
Ich wollte keine Geheimnisse vor ihm haben und auch wenn ich an seiner Stimme hörte, wie wenig begeistert er davon war, sobald Pauls Name fiel, war mir wohler, als es endlich ausgesprochen war.
„Ich hoffe sehr, dass dir Jacob bleibt. Ansonsten halt dich an Lou und Bella, bis du endlich dort rauskommst. Die beiden dürfen dich dann auch gerne hier in LA besuchen", hatte er schließlich gelacht und allein dadurch war zumindest für einen Moment alles wieder in Ordnung.

Doch auch das änderte nichts daran, dass die Welt hier in La Push noch dieselbe war, sobald ich das Telefonat wieder beendet hatte.
Sobald Dillon wieder verstummt war, liefen meine Gedanken weiter Amok. Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, was es mit Sams Freundeskreis auf sich hatte und wie Jacob nun dort landen konnte.
Und auch wenn ich es nur ungern einsehen wollte, ließ mich auch Pauls plötzliche Einsicht nicht mehr los. Er hatte noch nie Interesse daran gezeigt, Frieden mit mir zu schließen – weshalb jetzt?

Immer und immer wieder kreisten meine Gedanken um dieselben Dinge, bis ich schließlich, wie so oft, durch die Stimme meines Vaters aufgeschreckt wurde.
Zögerlich hatte er nach kurzem Anklopfen meine Zimmertür aufgestoßen und sah mich fragend an, als er mich auf meinem Bett ausgemacht hatte.
„Du hast Besuch. Ist das okay?"

Da mein Vater noch kein Blut an den Händen hatte, standen die Chancen gut, dass dieser ominöse Besuch nicht Paul war. Und nachdem ich auch bezweifelte, dass Sam hier plötzlich auf der Matte stehen würde, rappelte ich mich seufzend auf.
„Klar", raunte ich vor mich hin, als mein Vater bereits wieder zurücktrat und den Weg frei machte.
Ich hatte Lou oder vielleicht sogar Bella erwartet, doch stattdessen schob sich nun Jacob in mein Blickfeld und stand etwas verloren im Zimmer, als mein Vater die Türe hinter ihm wieder schloss.

Für einen Moment hatte ich sogar Sorge, Jake würde mit seiner Statur nicht einmal durch den Türrahmen passen. Alleine diese Veränderung gab mir schon zu denken.
Hatte ich Jacob in letzter Zeit wirklich so oft gesehen, dass mir gar nicht aufgefallen war, dass er so sehr an Muskelmasse zugelegt hatte? Ich war ohnehin schrecklich darin, äußerliche Veränderungen an Menschen wahrzunehmen, doch das wäre mir doch aufgefallen.
Andererseits war ich zur Zeit auch so sehr mit mir selbst beschäftigt und Paul hatte mir so viel Nerven geraubt, dass es noch nicht einmal überraschend gewesen wäre, wenn ich tatsächlich einfach blind gewesen war.

Ich wusste selbst nicht, was ich davon halten sollte, dass er nun hier in meinem Zimmer stand.
Zum Einen freute ich mich ihn zu sehen und darüber, dass er augenscheinlich einen Schritt auf mich zumachte, andererseits war ich all das inzwischen leid.
Er würde sicherlich wieder versuchen mir zu erklären, weshalb er sich mit diesen Menschen umgeben wollte und ich wollte es einfach nicht mehr hören.

„Hey", tastete sich Jacob voran, kam schließlich aber doch selbstsicher auf mich zu und ließ sich ungefragt auf meinem Bett nieder. „Verkriechst du dich jetzt hier? Man kriegt dich draußen ja gar nicht mehr zu Gesicht."
„Naja, was da draußen rumläuft, ist ja auch nicht unbedingt einladend."
Ich dachte nicht nach, aber diesen Seitenhieb konnte ich mir nicht verkneifen.

Müde seufzte Jake und sah mich tadelnd an.
„Ach komm schon, Julie. Du klingst wie ein trotziges Kleinkind. Willst du jetzt beleidigt hier in deinem Zimmer verrotten, nur weil ich mich mit Menschen vertragen hab', die du nicht magst?"
Ich gab es nur ungern zu, doch das, was Jacob sagte, hatte leider Hand und Fuß. Ich wusste, dass mein Verhalten nicht gerade erwachsen war, doch da war ich hier in La Push ja nicht die Erste.

„Was ist so schlimm daran?", redete Jake weiter. „Haben wir uns nicht immer darüber beschwert, dass in La Push die Zeit stehen bleibt und sich nichts verändert? Embry und Quil haben sich eben nun mal verändert, also arrangier' ich mich eben damit. Und Sam ist wirklich in Ordnung."
Ich wusste, dass er Paul vorerst außen vor ließ, denn was immer er mir erzählt hätte – Paul hätte er mir nicht schönreden können.

Unzufrieden guckte ich drein und hielt Jacobs auffordernden Blick stand. Ihm war ebenso bewusst wie mir, dass er recht hatte.
Das Einzige, was ich ihm hätte vorwerfen können, wäre gewesen, dass er sich von mir abwenden würde, doch nun saß er hier auf meinem Bett und redete auf mich ein.
„Das sind aber nicht die Veränderungen, die ich für La Push immer wollte", erwiderte ich immer noch trotzig wie ein kleines Kind, was Jacob nur triumphierend grinsen ließ.

„Wieso sind sie und Sam urplötzlich so unzertrennlich?", fragte ich dann aber doch nach und sah mein Gegenüber neugierig an.
Neutral zuckte Jake mit den Schultern. „Wieso nicht? Er ist echt ganz cool drauf. Er hilft, er ist lustig. Ich mag ihn auch sehr."
Skeptisch zog ich die Augenbrauen nach oben. Hilfsbereit, cool und lustig wären wohl die letzten Adjektive, die mir zu Sam Uley, so wie er immer durch La Push stolzierte, eingefallen wären.

„Aber sie waren doch nie so eng befreundet und plötzlich –"
„Das waren wir beide auch nie", warf Jake ein. „Sowas ergibt sich eben."
Jacobs Erklärung wollte mich nicht gänzlich überzeugen, doch trotzdem hatte er auch in diesem Punkt wieder recht. La Push war klein, jeder kannte jeden und Freundschaften entstanden und verlagerten sich.
Dennoch war all das um Sam so intensiv und jedes Mal so schlagartig – eben ungewöhnlich.

„Und was das mit Bella angeht", erhob Jake seine Stimme wieder. „Das tut mir leid, ich hab nicht nachgedacht. Bella hat nachgefragt und ich.. Ich wollte ihr nichts vorenthalten oder sie anlügen. Aber das hätte ich nicht tun sollen, ich weiß. Es war nicht mein recht, deine Geschichte zu erzählen. Sorry dafür."

Und jetzt war er also auch noch einsichtig und bereute – ich konnte also gar nicht anders, als ihm zu verzeihen und selbst einzusehen, dass er recht und ich überreagiert hatte.
Unwillkürlich stand mir ein leichtes Lächeln im Gesicht.
„Schon okay", nahm ich seine Entschuldigung an und auch er grinste mich breit an.

„Also?", stieß er auffordernd gegen mein Knie und wollte wohl meine finale Sicht der Dinge hören.
Seufzend ließ ich mich rücklings auf die Matratze fallen und starre an die Zimmerdecke.
„Versprichst du mir denn, dass sich zumindest zwischen und nichts ändern wird?"
„Versprochen", kam es sofort wie aus der Pistole geschossen von Jake.

„Du bleibst also mit mir, Lou und Bella befreundet?"
Ganz im Gegensatz zu vorher ließ die Antwort nun weitaus länger auf sich warten und ich hörte nur Jacobs schweren Atem.
Fragend hob ich meinen Kopf leicht und sah ihn, wie er grübelnd auf seine Hände starrte.
„Jake?"
„Ich –"
„Versprochen?"
Doch noch ehe ernsthaftere Zweifel in mir aufkommen konnten, lenkte Jacob ein.
„Versprochen", sagte er leise und hievte sich wieder auf die Beine.

Durch treue Augen sah er mich an, als er wieder vor dem Bett stand und öffnete leicht lächelnd seine Arme.
Er wirkte nicht gänzlich erleichtert, wie noch vor wenigen Augenblicken, doch zumindest schien er froh darüber, mich vorerst überzeugt zu haben.
Lächelnd rappelte auch ich mich auf und ließ mich willens in seine Arme schließen.

Gerade wollte ich ihn darauf hinweisen, ob er nicht doch noch kränkelte und Fieber hatte, nachdem sein Körper sich selbst durch seine Klamotten verdächtig warm anfühlte, doch vorher nutzte Jacob schon die Gelegenheit, um mich schon wieder aus der Bahn zu werfen.
„Und mach dir bitte keine Sorgen wegen Lahote", sagte er in diesem Moment leise. „Auch der hat sich verändert."

Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, ließ er mich wieder los und lächelte mich zuversichtlich an, während mir allein wegen dieses Namens schon wieder die Luft wegblieb.
„Also dann, wir sehen uns!"
Und ehe ich mich versah, war Jake schon wieder aus meinem Zimmer verschwunden und brachte mit seinem ganzen Gewicht die Dielen zum Knarren, als er das Haus wieder verließ.

Lahote || Twilight / WerwolfWhere stories live. Discover now