Kapitel 38 - Offenheit

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Kapitel 38 - Offenheit

– Julie –

La Push, Juni 2010

Bei Paul aufzuschlagen, war ohnehin einzig und allein ein Akt der Verzweiflung.
Doch als ich ihm nun gegenübersaß und seinen planlosen Blick einfing, wurde mir wieder bewusst, wie verrückt es eigentlich war.

„Denkst du, wir können jemals wieder ein normales Verhältnis zueinander haben?", fragte ich wenig hoffnungsvoll.
Ich bezweifelte, dass wir eines Tages wieder vernünftig miteinander umgehen konnte, doch etwas in mir hoffte, dass Paul das anders sehen würde und mich womöglich vom Gegenteil überzeugen konnte.

Wider meines Erwartens schüttelte dieser jedoch entschieden den Kopf.
„Ich glaube die Prägung alleine bedeutet schon das wohl abnormalste Verhältnis, das man zueinander haben kann. Und in unserem Fall ist das Ganze wohl noch tausend Mal komplizierter", erklärte Paul sachlich, doch in seinen dunklen Augen konnte ich sehen, wie nah es ihm ging.

Einsichtig nickte ich. Ich hatte es geahnt.
Alles, was ich mir wünschte, war, dass mir Paul endlich aus dem Kopf ging und wir einander neutral gegenübersitzen konnten. Aber stattdessen tobten in mir die verschiedensten Gefühle und das auch noch in Extremen, wie nur er sie auslösen konnte.
Ob es daran lag, dass ich ihm so lange verfallen war oder daran, dass ich nun wusste, dass er mich aus ganzem Herzen liebte oder lieben musste, konnte ich nicht einordnen.

Schweres Schweigen lag zwischen uns, bis Paul es endlich wieder brach.
Hörbar atmete er durch und schien sich in seiner Haut mehr als unwohl zu fühlen.
„Julie, ich freu mich wirklich, dass du hergekommen bist, aber –"
Verzweifelt sah er mich an. „Ich weiß einfach nicht, was du von mir erwartest."

Da rannte Paul bei mir offene Türen ein. Ich wusste selbst nicht, was ich von ihm erwartete.
„Ich wünschte ich könnte irgendetwas tun, aber im Moment kann ich mich nur aufrichtig für alles, was ich je getan habe, entschuldigen und darauf hoffen, dass du verstehst, wie sehr mir all das leid tut", wiederholte er sich noch einmal und legte all seine Ehrlichkeit in diese Worte.
Es klang beinahe, als würde sein gebrochenes Herz mit mir sprechen.

Ich hatte ihm bereits zuvor gesagt, dass ich nicht daran zweifelte, dass es ihm leid tat - immerhin musste es ihm leid tun. Und genau da lag das Problem.
Und wann, wenn nicht jetzt, konnten wir offen darüber sprechen.

„Weißt du, was es mir so unsagbar schwer macht, das zu akzeptieren?", überlegte ich laut und sah Paul an.
„Alles, was ich dir je angetan hab' und je zu dir gesagt hab'?", bot mir dieser als mögliche Optionen an.
„Nein", schüttelte ich leicht den Kopf. „Wobei, doch – also teilweise. Aber viel mehr die Tatsache, dass dir erst jetzt bewusstwird, was du in all den Jahren getan hast. Du selbst hättest bis an dein Lebensende gedacht, du wärst im Recht und ich die Irre gewesen. Nur dieses... dieses Ding in dir hat das geändert. Nicht du selbst."

„Aber der Wolf in mir – das bin ich", stellte Paul sofort klar. „Um ehrlich zu sein, war ich nie mehr ich selbst, als ich es jetzt bin. Erst jetzt bin ich ganz. Eigentlich bin ich sogar erst jetzt wirklich Paul."
„Das ist trotzdem was anderes", schüttelte ich stur den Kopf, doch Paul schien das anders zu sehen.

„Nein, ist es nicht", schüttelte er seinen Kopf weitaus vehementer als ich zuvor. „Im Grunde ist es wie erwachsen werden, nur dass in mir eben dieser Wolf erwacht ist. Er war schon immer da, ich hab' dich also immer schon geliebt. Nur hab' ich's nicht sehen wollen, oder vielleicht auch nicht sehen können. Ich bin klüger geworden, aber mir ist bewusst, dass das die Vergangenheit nicht ungeschehen macht."

Ich hatte gedacht, dass es mir helfen würde, wenn Paul nur mal ehrlich sein würde und wir offen miteinander sprechen, doch anscheinend war das Gegenteil der Fall.
Alles, was er sagte, zeigte mir bloß wieder, dass er keinerlei dazu beitragen konnte, meinen richtigen Weg zu finden. Es war mein Problem und ich musste mich selbst damit auseinandersetzen.
Pauls Standpunkt wurde mir immerhin verdeutlicht.

Lahote || Twilight / WerwolfWhere stories live. Discover now