Kapitel 1

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Die Uhr an der Wand tickte und brachte mich damit fast um den Verstand. Seit einer halben Stunde saß ich auf dem Sofa und war in Gedanken versunken. Immer wieder wollte ich aufstehen, um über die Straße zu laufen und Familie Hayls mein Beileid auszusprechen. Aber ich konnte nicht, ich war wie gelähmt.

Ich griff nach der Fernbedienung neben mir und schaltete den Fernseher ein. Es liefen die Nachrichten und das ununterbrochen.

"Seit gestern ist nun auch die acht Jährige Lucy Hayls spurlos verschwunden. Wie auch bei den anderen Fällen, war sie nach der Schule nicht Nachhause gekommen. Die Polizei ist immer noch auf der Suche nach den anderen Kindern, die innerhalb der letzten sechs Jahre verschwunden sind. Bisher konnte noch keines dieser Kinder ausfindig gemacht werden. Die Polizei vermutet schon lange, dass der Entführer die Kinder ausfliegen lässt und sie dann in einem anderen Land gefangen hält.

Seit mehreren Monaten verfolgt die Polizei einen höchstverdächtigen Mann. Elijah Jackson, zweiundzwanzig Jahre alt. Er ist groß, hat braune Haare und sein Körper ist übersät von Tattoos."

Ein Bild eines jungen Mannes wurde eingeblendet. Das Gesicht kalt und angsteinflößend. Er sah nicht schlecht aus, aber sein Blick zerstörte das gute Aussehen in der nächsten Sekunde. Schnell schüttelte ich den Gedanken fort. Wie gebannt starrte ich auf den Fernseher, der mir die neusten Angaben zu diesem Fall gab.

"Falls Sie irgendwelche Informationen für die Polizei haben sollten, rufen Sie bitte unter dieser Nummer an."

Eine Nummer war unten am Rand zu sehen, doch leider hatte ich keine Informationen, welche die kleine Lucy oder die anderen Kinder wieder zurückbringen konnten.

Ein Schauer jagte mir den Rücken hinunter und keinen Augenblick später, war mein kompletter Körper mit Gänsehaut überzogen.

Ich kannte Lucy gut. Oft gab ich ihr Nachhilfe in Englisch oder half ihr bei den Hausaufgaben, wenn sie etwas nicht verstand. Auch hatte ich oft auf sie aufgepasst, wenn beide ihrer Eltern arbeiten mussten. In den letzten Jahren hatte ich sehr viel Zeit mit ihr verbracht und sie jetzt vielleicht nie wieder sehen zu können, löste etwas in mir aus, dass den Gefühlen ähnelte, die ich verspürt hatte, als mein Vater meine Mutter und mich vor sechs Jahren verlassen hatte.

Lucys Mutter war die beste Freundin meiner Mom. Gleich als wir eingezogen waren, brachte sie einen Kuchen vorbei und half mir des Öfteren mal den Weg zur Schule zu finden. Sofort verstanden sich beide Mütter gut und wurden zu guten Freundinnen. Oft gingen wir gemeinsam essen oder unternahmen etwas zu viert. Lucys Vater hatte ich nicht oft zu Gesicht bekommen, da er die meiste Zeit arbeitete.

Als gestern die Nachricht ankam, fand ich meine Mutter aufgelöst im Zimmer vor und erinnerte mich an die Zeit mit meinem Vater. Sie hatte es mir sofort erzählt und auch ich war danach am Boden zerstört gewesen. Gestern Abend hatte ich daraufhin noch Kekse gebacken, um sie Lisa Hayls vorbei zu bringen. Doch so oft ich schon aufstehen wollte, ich schaffte es nicht.

Vielleicht hatte ich Angst davor zu sehen, was es mit einem Menschen machte, wenn das eigene Kind verschwand. Vielleicht hatte ich auch Angst, sie nicht trösten zu können oder etwas Falsches zu sagen. Ich wusste es nicht genau was mich davon abhielt hinzugehen, aber es war etwas Starkes.

Bisher war keines der verschwundenen Kinder jemals wiederaufgetaucht und es bestand auch keine große Hoffnung, dass es Lucy jemals tat. Doch ich hatte noch nicht aufgegeben. Heute Morgen, als meine Mutter nach unten kam, um mir zu sagen, dass sie gleich einkaufen gehen würde, erzählte sie mir, dass sie bei Lisa Hayls gewesen war. Sie hatte mir auch erzählt, dass sie sich selbst zurückhalten musste, bei dem Anblick ihrer Freundin nicht zu weinen. Als meine Mom den Raum betrat, saß sie vor dem Fernseher und starrte mit einem undefinierbaren Blick auf den Fernseher. Das Einzige was sie von sich gegeben hatte war ein: "Jemand hat Lucy entführt." Auch meine Mom war überfordert gewesen und hatte versucht sie zu trösten.

Ja, vielleicht hatte ich genau davor Angst, sie so vorzufinden und nichts tun zu können. Ich wusste nicht wie es sich anfühlte, ich konnte ihr nicht helfen.

Ich drehte meinen Kopf in Richtung des Esstisches. Dort lag die Dose, gefüllt mit Schokokeksen. Wie auch zuvor, war ich wie gelähmt.

Das Gesicht des jungen Mannes tauchte wieder in meinen Gedanken auf. Niemand wusste genau, ob er es war. Nie hatte es schlagfertige Beweise gegeben. Niemand wusste, wer er wirklich war, ob er es wirklich getan hatte und wenn, warum. Nichts von alldem ergab einen Sinn für mich.

Das Geräusch eines Autos, welches in die Einfahrt einfuhr, holte mich aus meinem Gedanken. Ich hörte Schlüssel die sich im Schloss drehten und schon stand meine Mutter vollbepackt mit Einkäufen vor mir.

"Könntest du mir vielleicht helfen, Avery?" Schnell lief ich zu ihr und nahm ihr eine der schweren Tüten ab. Auch sie stellte die andere auf den Tisch. "Hast du noch etwas von den Hayls gehört?" Sie schüttelte nur mit dem Kopf. " Leider nicht." Sie entdeckte meine Kekse und schaute zu mir auf.

"Komm, ich bringe dich rüber und du gibst die Kekse ab." Liebevoll packte sie meine Schulter. "Ich weiß nicht Mom, vielleicht will sie nicht das jemand kommt." Sie nickte. "Vielleicht. Aber vielleicht will sie genau das jemand kommt." Gutes Argument Mom, gutes Argument. Ich nickte ihr nur zu und nahm all meinen Mut zusammen.

Ich zog meine Schuhe an und meine Mutter tat es mir gleich.

"Mom, du musst nicht mitkommen." Versicherte ich ihr.

"Oh doch, so lange dieser irre Typ noch dort draußen rumläuft, gehst du nirgendwo alleine hin."

"Mom, er hat es auf Kinder abgesehen.", erklärte ich augenrollend.

"Du bist ein Kind, jedenfalls für mich, also keine Widerrede." Ich gab mich geschlagen und folgte ihr nach draußen. Ich hielt meine Kekse fest umklammert, als ich die Stufen zur Haustür hinauflief. Mit leicht zitternder Hand klingelte ich und drehte mich zu meiner Mutter um, die aufmunternd ihren Daumen nach oben hielt.

Die Tür wurde geöffnet.

"Hallo Avery."

Tattooed Monster Where stories live. Discover now