Kapitel 4

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"Was meinst du damit, er hat sich gemeldet?" Immer noch geschockt, schluckte ich meine Nudeln herunter. Sie faltete ihre Hände auf dem Tisch zusammen und lehnte sich etwas vor. "Er hat einen Brief geschrieben, du weißt ja, dass dein Vater noch nie wirklich viel von elektrischen Geräten gehalten hat."

Er hatte einen Brief geschrieben. Nach all den Jahren hatte er uns einen Brief geschrieben. Ich konnte meine Gefühle, die sich gerade in mir aufkeimten, nicht beschreiben. Ein Gefühl zwischen Wut und Verwunderung. Nie in meinem ganzen Leben hätte ich gedacht, dass ich nochmal etwas von ihm mitbekam, geschweige denn, dass er sich meldete.

Unterbewusst schob ich mir noch eine Gabel voll Nudeln in den Mund, auch wenn mir der Appetit schon lange vergangen war. Dieses mal konnte ich sie nur schwer kauen. Ich schluckte und schaute zu meiner Mutter. In ihren Augen konnte ich sehen, dass sie mindestens genauso geschockt davon war, wie ich. Als er uns verlassen hatte, war es eine schwere Zeit für sie. Umziehen, einen neuen Job finden. Alles hinter sich lassen. So sehr ich auch traurig gewesen war, dass wir das Haus nicht alleine bezahlen konnten, war ich mir nicht sicher, ob wir es dort ausgehalten hätten.

Der Umzug war die beste Entscheidung gewesen. Neue Stadt. Ein Neuanfang. "Was hat er geschrieben?" Es sollte mich nicht interessieren, aber das tat es. Ich wollte wissen was er nach all den Jahren schrieb. Ob er sich entschuldigte oder doch irgendetwas verlangte.

Die Scheidung war kurz nachdem er gegangen war eingereicht und geregelt worden und daraufhin war er nie wiederaufgetaucht. Er hatte auch nie einen Brief an uns hinterlassen.

Jedenfalls keinen von dem ich wusste.

Erwartungsvoll schaute ich meiner Mutter in die Augen. "Er will das du ihn besuchen kommst." Jetzt verschluckte ich mich an den Nudeln. Ich ließ meine Gabel auf dem Teller fallen und fing an zu husten. Wie bitte? Das konnte nicht sein Ernst sein. Glaubte er wirklich, dass ich ihn jemals besuchen kommen wollte, nachdem er einfach gegangen war?

Ich hustete immer noch, aber langsam wurde es leiser, nachdem mir meine Mom mehrere Male auf den Rücken geklopft hatte.

"Denkt er wirklich wir würden ihn besuchen kommen?" Ungläubig schaute ich zu ihr. "Nicht wir Avery, nur du." Ohne meine Mom, niemals. Für mich war die Antwort klar.

"Willst du denn, dass ich ihn besuchen gehe?"

Sie schüttelte den Kopf. "Natürlich will ich es nicht, aber, wenn du das möchtest, kann ich es verstehen."

Sie lächelte mich sanft an. Sie war schon immer einer der herzlichsten Menschen gewesen, die ich kannte und dazu mein Vorbild. Ich schüttelte jedoch nur den Kopf. "Nein, ich möchte ihn nicht sehen." Machte ich klar und hoffte somit, das Thema vom Tisch gefegt zu haben.

"Na gut, wenn du nicht möchtest dann musst du nicht. Ich werde ihm absagen."

Erneut schüttelte ich den Kopf. Nein, das musste ich selbst erledigen.

"Ich mache das schon. Aber kannst du mir den Brief geben?"

Sie nickte. "Sicher, wenn du ihn haben möchtest."

Auch ich nickte zurück und nach diesem Gespräch, aß jeder von uns beiden seine Nudeln schweigend. Die Situation war angespannt. Dennoch war ich froh, dass sie es mir erzählt hatte.

Ich räumte unsere Teller vom Tisch. Meine Neugierde, was er genau in diesem Brief geschrieben hatte, wuchs und ich hielt es kaum noch aus. Der Brief lag auf der Kommode, doch jetzt wo ich genau davorstand, traute ich mich nicht mehr. Was ist, wenn darin etwas stand, was mich doch umstimmte? Das glaubte ich eher weniger. Mein Vater war noch nie ein Mann gewesen, der sich für seine Taten entschuldigte. Und solange er dies nicht tat, gab es dort nichts zu überlegen. Hastig griff ich nach dem Brief und verschwand in mein Zimmer. Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett.

Mit leicht zittrigen Finger öffnete ich den schon geöffneten Briefumschlag. Ich wartete nicht lange und faltete das Stück Papier in meiner Hand auseinander.

Liebe Avery,
vielleicht erinnerst du dich noch an deinen Vater.
Wie wäre es, wenn du mich mal besuchen kommst? Natürlich ohne deine Mutter.
Meine Adresse findest du auf der Rückseite. Überlege es dir und schreibe mir zurück.

Enttäuscht legte ich das Stück Papier zur Seite. Das war alles? Das war alles, dass er nach jahrelangem Schweigen schrieb? Vier Sätze? Und dieser abwertende Satz gegenüber meine Mom in diesem Brief, war nicht zu überlesen. Natürlich ohne deine Mutter.

Keine Entschuldigung. Keine liebevollen Worte, dass er mich in dieser Zeit vielleicht vermisst hatte. Wut keimte in mir auf. Nur vier Sätze und jeder einzelne davon machte mich wütend. Nein, dieser Brief hatte meine Meinung nicht geändert. Ich wollte dort nicht hin. Niemals!

Ich nahm den Brief und riss ihn entzwei. Ich war wütend. Verdammt wütend. Aber die Enttäuschung war noch viel größer. So viele Erwartungen hatte ich in diesen Brief gesetzt. Schon seit dem Moment als er gegangen war, zählte er zu meinen Feinden. Er gehörte nicht mehr zur Familie. Doch trotzdem war ich verletzt. Verletzt davon, dass er nichts von all dem eingesehen hatte.

Tattooed Monster Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt