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Dass sich Jungkook jemals früh morgens heimlich aus dem Haus schleichen würde, hätte er niemals von sich erwartet. Auch nicht, dass er dabei wie ein Kind an Weihnachten grinste und mit seinen nackten Füßen gar nicht schnell genug durch das taufrische Gras eilen konnte. Das Hemd des Alten, das ihm ausgesprochen gut passte trotz der Übergröße, flatterte im Wind und riss an dem Stoff, entblößte seine muskulöse Statur und steigerte seine Vorfreude ins Unermessliche. Die halbe Nacht lag er wach und fand trotz seiner ächzenden Knochen und der bleiernen Müdigkeit keinen Schlaf – er war zu aufgeregt.

Es wäre das letzte Mal, das er Tae sehen dürfte.

Aber anstatt verstimmt und traurig eine Grimasse zu ziehen, wollte er diesen Tag in vollen Zügen genießen. So tun, als würde es irgendwann ein Wiedersehen geben. Was es natürlich nicht tat. Obwohl das Träumen Jungkook eine falsche Illusion vorgaukelte, eine nicht existierende Realität zeigte, fand er immer mehr Gefallen daran. Am Träumen. Denn es brachte ihn näher zu Tae.

Jauchzend tanzte er durch die morgendliche Gischt und watete ungeduldig in das kalte Gewässer, unterdrückte ein fröstelndes Zittern und freute sich mit allen Sinnen auf seinen Gefährten. Die Sonne würde bald aufgehen und ihr Licht auf die verlassene Landzunge werfen, hoffentlich auch auf einen Jungkook mit seinem Tae in den Armen. Es wäre ein besonders schöner Weg, den Tag zu begrüßen.

„Tae? Ich bin's, Jungkook!", rief er leise über's Wasser und wartete. Ein paar Seemöwen krakelten über die viel zu frühe Ruhestörung, Jungkook blendete es aus. Er schwamm ein Stück weiter und spürte trotzdem noch den Sand zwischen seinen nackten Zehen – der langgezogene Strand war ein wahres Paradies für Kinder. Vielleicht würden seine eigenen ja irgendwann hier spielen? Mit Betonung auf irgendwann. Jungkook war noch nicht mal 20 Jahre alt. Jetzt wollte er bestimmt noch keine Familie gründen. Nicht nachdem er seine erst verloren hatte.

„Tae!", wiederholte er erneut seinen Namen und wurde etwas ungeduldig. Das orangfarbene Licht wurde immer kräftiger und heller. Jungkook blickte sich suchend um und fuhr sich durch die feuchten Haare. Was, wenn Tae woanders auf ihn wartete und sich wie er über die Einsamkeit wunderte? Wobei, nein. Jungkook würde nicht aus Dummheit an einem falschen Ort warten. Oder wollte Tae ihn vielleicht gar nicht wiedersehen? Hatte er seine Meinung geändert und war dorthin zurückgekehrt, wo Jungkook ihm nicht folgen konnte? Bei dieser Erwägung verspürte er Trauer in sich aufkeimen. Dass der Blauhaarige dazu fähig wäre, bezweifelte er stark. Der Abschied konnte doch nicht so leicht sein für jemanden, der sich so zutraulich und so geschätzt durch einen anderen fühlte?

Jungkook schluckte hart. Hatte er den Verstand verloren? Tae existierte doch, er...er war real. Ein Junge mit Flosse statt Beine. Jungkook war sich so sicher, dass er nicht fantasierte.

"Tae...bitte stell dich nicht als eine Einbildung heraus", flüsterte er bitter enttäuscht und musste sich eingestehen, dass er leichtsinnig gewesen war. Wie hatte er sich das denn vorgestellt? Dass es tatsächlich diese Wesen gab, wovon so viele Hollywoodfilme handelten? So viele Geschichten geschrieben wurden? Und selbst wenn ein Funken Wahrheit an der geheimnisvollen Kreatur mit den ozeanblauen Augen haftete: er hatte Recht.

Ihre Welten trennten sie.

Das würden sie immer.

Ein Hindernis, das nichts und niemand zu bezwingen wusste. Ein Mensch mit einem Meerjungen, das ging nicht gut. Unter solchen Umständen stand eine Liebe unter keinem guten Stern. Es war verboten. Eine leichtsinnige Romanze, deren Grenze zwischen Sympathie und Liebe immer mehr verschwamm.

„Bitte, Tae...i-ich glaube doch an dich", hauchte er und fühlte sich leer. Sein Herz zog und der Magen kugelte quer durch seinen Leib, verdrehte ihm die Organe und löste eine furchtbare Welle an Unmut und Traurigkeit aus. Tae existierte. Er hatte es selbst gesehen, selbst gespürt. Das konnte nicht einfach so weg sein. Der Schwarzhaarige weigerte sich, diese Erkenntnis anzunehmen. Tae existiert.

Ocean Eyes  [MERMAID!AU]Where stories live. Discover now