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J-Jimin?", erhob sich Tae's erschöpfter Blick zaghaft von seinem unangerührten Abendmahl, das wie die vielen Abende zuvor verschmäht wurde. Der Tänzer, dem die kränkliche Blässe seines Schützlings mit jedem Tag deutlicher auffiel, schürzte die Lippen und wartete auf weitere Wörter. In der kleinen Küche befand sich derzeit niemand bis auf die beiden, Guiseppe war vorhin von den zweien in's Bett gebracht worden und es war einer seiner guten Tage gewesen, denn er hatte Tae als den bekannten Ozeaner adressiert und ihm Mut zugesprochen, als dieser vor Rührung beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Es war eine emotionale und beschwerliche Zeit, die jeder von ihnen durchmachte. Tae's Hände hingen umschlungen von Jimin's bunten Armbändern geschmückt, weil der Ozeaner trotz seiner Verwahrlosung noch immer sehr hübsch und feminin wirkte, ziellos in der Luft und er schluckte hart den Kloß in seinem Hals hinunter. Der forschende Blick seines Gegenübers bohrte sich ihm unter die Haut, so tief, dass der Ozeaner fürchtete, der Mensch würde in seine gehüteten Gedanken Einblick finden. Die Gedanken, die von morgens bis abends und zu jeder anderen Zeit mit Bildern seiner vermissten Liebsten geprägt waren. Instinktiv legte er eine Hand auf seinen dicken Bauch und streichelte Kreiselchen auf die Haut, beruhigte das flatternde Nervenkostüm und schenkte somit auch dem ungeborenen Kind sein größtmögliches Maß an Liebe und Zuwendung, das er imstande war in seiner Verfassung aufzubringen. Noch.

W-würdest du mich zu einem Spaziergang begleiten?"

„Jetzt? Es ist spät und dunkel, wieso willst du noch mal rausgehen?", erhielt er prompt die erwartete Gegenfrage und biss sich entmutigt auf die Lippe. „Du siehst mir eher nach einer heißen Wanne und einem ziemlich starken Drink aus. Aber Kookie reißt mir den Kopf ab, wenn ich dir jetzt Alkohol geb", meinte Jimin und deutete auf des anderen Körpermitte, die ein absolutes No-Go repräsentierte für fahrlässiges Verhalten. „Also kann ich dir allenfalls warme Milch mit Honig anbieten. Sag, möchtest du eine Tasse?"

Schnell senkte er den Blick zurück auf die schmächtige Suppenschüssel, deren nährstoffreiches Hühnerfleisch den geschwächten Körper stärken sollte. Jimin machte keinen Hehl aus der dünner werdenden Gestalt, die täglich vor reich gefüllten Tellern kauerte als bestünde das Essen aus purem Gift. Die abwesende Leere in seinem Blick führte bereits einmal zu einer groben Auseinandersetzung mit ihm, Anschuldigungen und Vorwürfe wurden beiderseits fallen gelassen wie scharfe Bomben und am bitteren Ende des Streits, der Tae überforderte und ihm zu viel Stress bereitete, war es Jimin, der ihm bereitwillig verzieh und den werdenden Elternteil mit einem Glas Wasser versuchte zu beruhigen. Denn er fürchtete um das Kind, wenn sich Tae's Zustand nicht besserte oder mindestens stabilisierte.

Tae erlebte die Hölle öfter, als er verdiente.

Jeden Tag, jeden gottlosen Tag in dem er in diesem Haus festsaß und mit Konfrontationen der geraubten Kinder und des verschwundenen Gefährten zurechtkommen musste, kratzte es an seiner Hoffnung. Wobei, hatte er an diesem Punkt der Einsamkeit noch die Kraft für etwas so törichtes wie Hoffnung?

Ja.

Denn etwas anderes als hoffen blieb ihm nicht.

Doch der tote Blick, die Ausdruckslosigkeit seiner ermatteten Augen vermochte nichts zu verhüllen.

Sein Inneres war fürchterlich zerbrochen und zersplittert, wie ein zu Boden gefallener Edelstein. Wie der zerbrochene Bilderrahmen, dessen Scherben man trotz des Flüssigklebers und trotz der grazilen Reparaturen von Jungkook noch erahnen konnte. Scherben verschwanden nicht. Man konnte zerbrechen und kaputt gehen, völlig am Ende sein und irgendwann wieder die Kraft haben, weiterzumachen. Licht finden. Im Licht zu bleiben. Doch die Scherben...die Scherben würden niemals gänzlich verheilen.

Ich...ich möchte ihnen nah sein", bat der Schwarzhaarige und nestelte mit seinen Händen, die mit den bunten Armbändern und Schmuckstücken lächerlich blass und entkräftet aussahen. „Es ist nicht viel, ein paar Meter die mich näher an sie heranführen...Jimin, bitte. Ich fühle mich so schrecklich einsam, u-und meine Familie ist dort unten...w-wenn sie denn noch lebt", schluchzte er leise und hielt sich die Hand vor den Mund um die Laute abzudämpfen, die ihm die Brust einschnürten. Er zitterte und Jimin, der sofort in akute Alarmbereitschaft schaltete als sein Freund klagvoll zu weinen begann, so klagvoll dass ihm selbst ganz leid wurde, stand eilig auf um sich neben ihn zu setzen und in eine tröstliche Umarmung zu ziehen. Er selbst kannte diesen Schmerz, diese Qualen der nagenden Ungewissheit und wohin Jimin sich nach einem Menschen sehnte, hatte Tae's Herz mit dem Verlust von fünf geliebten Familienmitgliedern zu kämpfen. Fünf.

Jeder winzige Millimeter...b-bitte Jimin, ich möchte ihnen so nah sein wie es mir möglich ist", trug er seine Bitte vor und hoffte inständig, der mit sich ringende Tänzer vor sich würde ihm wenigstens dieses kleine Anliegen erfüllen. Wo er schon sonst nichts Gutes mehr hatte, wo ihm nichts mehr blieb bis auf ein Haus voller leidvoller Erinnerungen, wollte er für einen kurzen Moment in die Illusion einer heilen Märchenwelt entführt werden. Eine kleine Weile. Eine kleine Weile ohne den Schmerz in seinem Herzen, ohne das erdrückende Gewicht auf seiner Seele. Eine Nacht, in der Sternlein die Träume des Ozeaners erhören würden. Eine Nacht, in der Tae mit den Geistern der Vergangenheit Frieden schließen und endlich heimkehren durfte. Zu korallbraunen Augen, die seinem Herzlein neues Leben einflößten und heim zu den Engelchen, ohne die er schon viel zu lange hier vegetierte.

Jimin schien nichts dagegen zu haben, es war immerhin auch ein wenig Bewegung und frische Luft für ihn, da er stumm sein Haupt neigte und den Schlüssel der Haustür aus seinem Gewand hervorholte, den er seit seinem Einzug in das Haus im Einverständnis mit Guiseppe und Tae aufbewahrte. Der Schlüssel glänzte im Lampenlicht. Tae schöpfte Hoffnung.

„Wir gehen raus", sprach Jimin sanft und dann schob er Tae den gefüllten Suppenteller heran, hielt ihm auffordernd den Löffel entgegen und seufzte. „Unter der Bedingung, dass du aufisst. Kuck mich nicht so an, bitte...das ist nötig. Das da...", er deutete auf den kinderträchtigen Leib, ehe er sanft aber bestimmt weitersprach und dabei ausschließlich das Wohl seines Gegenübers im Sinn trug. „...ist kein Bonuskuschelmaterial. Das ist ein Kind, dein Kind, ein unschuldiges Lebewesen, auf das du aufpassen musst. Es hat nur dich, dich und übergangsweise mich, bis Kookie wieder da ist. Und glaub mir, Tae, wenn er heimkommt will ich ihm nicht sagen müssen, dass..."

...dass er seine Tochter niemals kennenlernen wird, und sie zurück zu den Engelchen geflogen ist.

Und binnen weniger Momente zerfraß der lauernde Schock die winselnde Hoffnung. Tae blickte den Mann aus gekränkten Augen bittend an, doch er wusste um die Aussichtslosigkeit dieser Situation. Sein Gegenüber wachte die ersten Tage und Wochen über das verwaiste Gefährtenüberbleibsel und pflegte es wie ein nahestehender Verwandter. Pflegte es wie die Familie, in die Tae unter anderen Umständen nur zu gerne hineingeboren worden wäre. Lustlos schüttelte Tae den Kopf und schob den Teller demonstrativ von sich, verzog das Gesicht und weigerte sich wie erwartet. Er tat es nicht mit Absicht, nein woher auch, jedoch...was war ein Leben ohne seinen Gefährten wert? Was sollte er der Kleinen sagen, wenn sie größer wurde und nach ihrem fehlenden Elternteil fragte? Tae brach bei diesen Gedanken beinahe nächtlich in herzzerfließende Tränengesänge aus. Ein Leben ohne Jungkook war vieles, doch kein Leben. Kein lebenswertes. Das zeigte ihm das Taubheitsgefühl ganz klar, welches ihn überwucherte wie eine pelzige Apfelsine.

Tae erfuhr zu viel Übel, als das er selbst dieses schmächtige Mahl als gut gemeinte Geste ansehen konnte. Die Striemen und gut versteckten Male zierten seinen ausgelaugten Körper nicht ohne Grund. Er verdiente es. Er enttäuschte alle, einschließlich des Menschen den er liebte. Er hatte ihn verlassen und könnte niemals sein Versprechen einlösen, den Sonnenaufgang als Zeuge seiner Rückkehr zu sehen. Das Sonnenlicht war so fern, soweit außerhalb seiner Reichweite wie eine glückliche Zukunft. So weit weg. So entsetzlich weit weg. Welten entfernt.

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Ocean Eyes  [MERMAID!AU]Where stories live. Discover now