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Wow", sperrte Tae die Augen auf und trat in's gesellige Wohnzimmer, durch dessen halb geschlossene Jalousien das Mondlicht zu erkennen war. Der Familienmensch setzt sich im Schneidersitz auf den Boden vor Miles, legte sich übertrieben eine Hand auf den Mund und fragte in das begeisterte Kindergesicht: „Hast du das etwa ganz allein gebaut?"

„Ja!", frohlockte der Kleine mit geschwollener Brust, protzte mit den aufeinander gestapelten Bauklötzchen und fühlte sich wie ein Meister, unter den bewundernden Loben von Sternchen, der nach wie vor keinen anderen Spitznamen inne hatte. Nicht, dass es ihn störte. Seine Kinder könnten ihn Tae nennen, oder Mommy oder wie auch immer sie wollten. Das war ihm mehr oder weniger gleichgültig. Tae streichelte Miles über das Köpfchen und küsste ihn auf die Stirn: „Mein kleiner Baumeister". Ein wenig spielten die zwei noch mit den Klötzchen und Tae teilte die Freude über jeden einzelnen Fortschritt, ehe sein Blick auf die Wohnzimmeruhr schweifte und er sich auf in die Küche machte. Dort holte er wie jeden Tag das kleine Medikamentenpäckchen aus dem Hängeschrank, drückte eine der Pillen aus dem Gehäuse und beäugte es.

Schwermütig seufzte er.

In diesen Chemikalien also liegt die Antwort auf die Frage, wie altersbedingte Vergesslichkeit in dieser Welt gehandhabt wird", murmelte er und schluckte nicht sehr angetan von den zusammengepressten Mitteln. In seiner Welt – in der Welt, aus der er stammte – wurden die Alten und Kranken so lange gepflegt, bis ihr Körper der Zeit unterlag und in die ewige Dimension der Geister übersiedelte, zu der niemand außer den Toten Zutritt gewährt wurde. Doch das war der springende Punkt: das hier war nicht seine Welt. Das hier war die Welt der Menschen, in der andere Regeln galten und dadurch, dass Tae im Zeitpunkt seiner Verwandlung nebst dem Erhalt der beiden Beine seine magischen Kräfte an die Ozeane zurückgeben musste, als Tausch, war es ihm nicht möglich, durch eine spirituelle Handauflegung die Krankheit zu heilen, mit der Guiseppe vor ein paar Monaten diagnostiziert wurde.

Alzheimer.

Es tat weh zu wissen, dass sich der Alte irgendwann nicht mehr an die Namen der sechs Bewohner erinnern würde, oder daran, wie er jedes der Kinder beim Aufwachsen zugesehen hatte. Es half nichts. Tae überwand seine Missgunst und brachte Guiseppe, dem abendlichen Geschichtenerzähler der mittlerweile gänzlich weiße Haare besaß, ein Glas Wasser für die tägliche Tablette. „Trink langsam", bat er noch und wurde von dem Alten mit einem dankbaren Blick belohnt: „Ach, mein Lieber. Ohne dich wäre dieses Haus leer und farblos. Danke, dass du diese Räumlichkeiten in ein Zuhause verwandelst"

Guiseppe, ich bitte dich", lächelte Tae schwer bewegt und nahm das leere Glas an sich, während er gleichzeitig eine Decke vom Sofa nahm und sie über die alten Beine breitete, die nicht mehr so tatkräftig gehorchten wie in der Blüte der Jugend und bevorzugten, nur noch die nötigsten Wege zu bestreiten. Er kümmerte sich gern um den Mann, der seiner Familie eine Lebensgrundlage schenkte. „Der Dank gebührt den Kindern", wehrte Tae sein Lob ab und blickte zärtlich auf Miles und Cedric, die sich mit ihrem Spielzeug und dem Radio beschäftigten.

„In der Tat", stimmte er zu und faltete seine schwieligen Hände auf dem Schoß, wandte sich ächzend zur Seite um dem klugen Cedric zuzusehen, wie der das Lego seines Rennwagens nach Farben sortierte und sich anschließend daran machte, der Bauanleitung nach Stück für Stück die Karosserie zusammenzusetzen. Tae folgte dem Blick des Alten und verspürte nichts als Liebe und Stolz, denn der Erstgeborene war von Beginn an ein kleiner Überflieger gewesen. Ein sehr geschickter und sehr kluger Überflieger, der ein reiches Leben vor sich warten hatte.

„Und dir, und dir. Denn ohne dich würde sich dein Mann um mich alten Schlucker kümmern müssen", lachte Guiseppe brummig und ließ nicht locker, wollte verdeutlichen wie viel es ihm bedeutete, diese Familie um sich zu haben und darüber hinaus auch noch ein Teil dieser Gemeinschaft sein zu dürfen. Trotz seinem stolzen Alter, denn wer hätte sich mit ihm Greis schon noch freiwillig abgegeben? Für die Pflegeheime überragte die Fahrstrecke zur nächsten Stadt sein Durchhaltevermögen, und zudem könnte er es sich bei seiner niedrigen Rente gar nicht leisten, sich von teuer geschultem Personal Essen und Medikamente bringen zu lassen. Zwar sah er nicht gern, dass Tae ihn umsorgte als wäre es seine Berufung – die Berufung des mittlerweile Schwarzhaarigen lag eindeutig darin, seinem Nachwuchs eine gute Mutterfigur zu sein und sein Leben mit Glück und Segen zu leben – doch alles Meckern und Abwehren von Hilfsbereitschaft änderte nichts daran, dass das schönste Kind der Meere ein Herz aus Gold besaß. Tae kannte das Gefühl der Vereinsamung und der emotionalen Isolation unglücklicherweise zu gut, hatte es selbst zu lange erdulden müssen bis er aus dem tristen Loch gezogen wurde, und deshalb ertrug er es nicht, Guiseppe nicht ebenso unter die Arme zu greifen. Er gehörte schließlich zu seiner Familie und hatte ihm ein Dach über den Kopf gegeben, als er sich fremd und unwillkommen in dieser neuen Welt gefühlt hatte.

Ocean Eyes  [MERMAID!AU]Where stories live. Discover now