16 - Charmanter Krimineller

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Die Sekunden, in denen wir schweigend verweilten, vergingen wie Stunden. Das Zeitgefühl verlor ich.
Die Realität fühlte sich wie ein unnahbarer Traum an. Aber er war da. Unmittelbar an meiner linken Seite. Nichts war Träumerei. Alles wahr real. Surreal.

Während sich das Wageninnere erwärmte, behielten wir die Ruhe.
Wir beide starrten auf die gegenüberliegende Seite des Mainkais. Die Wolkenkratzer leuchteten. Nebel zog an den Gebäuden vorbei und verschluckte die Obergeschosse.
„Ist die Aussicht mich schön?", unterbrach Cihan die Stille zwischen uns.
„Ja. Ich liebe diese Stadt."
„Früher haben wir uns auch oft am Ufer getroffen."
„Ja", wandte ich mich Cihan, der mich fixierte.

„Gib zu, egal wo du stehst, wie erfolgreich du als Anwältin bist, steckt immer noch die Ghetto-Asel in dir, die über Zäune kletterte, rebellierte... die keine Angst hatte.", behauptete er auf einmal. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. So war ich tatsächlich. Strafen waren wir einige Male entkommen.

„Wie kommst du darauf?"
„Weil dich diese Zeit zu der Person gemacht hat, die du bist.", erklärte Cihan.
„Vielleicht hat mich die Zeit danach am tiefsten geprägt."
Nun lächelte er.
„Sie hat dich geschliffen und zu einer langweiligen Juristin gemacht, die selbst um drei Uhr morgens das Strafgesetzbuch runterrattern könnte."
„Sollte ich das als eine Herausforderung aufgreifen?"
„Nimm es so auf, wie du willst, avukat hanım (Frau Anwältin).", antwortete er mit Betonung auf die letzten zwei Worte.

So viel Unsinn auf einem Haufen hatte ich lang nicht mehr gehört. Doch irgendwie fühlte ich mich auch entlarvt. Er sollte aufhören mich zu analysieren!
„Lieber bin ich eine langweilige Juristin, anstatt ein Gefahrenmagnet. Hast du eine behördlich ausgestellte Waffenbesitzkarte? Bist du Jäger, Sportschütze, Bewachungspersonal oder Waffensammler? Ich nehme an, keins trifft zu.", redete ich auf Cihan los.

Rasch und überfordert zog er die Braue in die Höhe. Sekunden später verfiel er in Gelächter. Wer hätte gedacht, dass aus der Ghetto-Asel eine schlagfertige Juristin wird?
„Wow, beeindruckend wie viele Gesetze in deinen Dickkopf passen. Ich fühle mich geehrt, eine kenntnisreiche Anwältin an meiner Seite zu haben... Aber vielleicht bin ich ja Waffensammler?"
Das könnte ich ihm glatt abkaufen. Unser erstes Treffen endete mit einer Verfolgungsjagd.

„Illegaler Waffenbesitz kann mit Geld- oder Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren geahndet werden. Nur so, Herr Gefahrenmagnet. Mir egal, ob du Waffensammler, oder was auch immer bist.", zuckte ich mit den Schultern. Aufmerksam hörte er meinem Gelaber zu, als ob ich eine aufregende Rede halten würde. Dabei gab ich nur wider, was ich für meinen Vater recherchiert hatte.

„Was haben Sie noch drauf, Frau Anwältin? Womit bestraft man Menschen, die einem Hoffnungen machen und gehen?", wurde mir auf einmal gefragt.
Eiskalt lief es mich an. Wie kam man auf solch eine Frage? Worauf wollte er hinaus?
Wenn jemand Recht hatte, diese Frage zu stellen, dann war ich es! Denn ich war diejenige, die von heute auf morgen im Stich gelassen wurde.
„Wollen wir zurück ins Wesentliche? Ich habe nicht viel Zeit.", beendete ich das seltsame Gespräch. Zu lange habe ich mich ablenken lassen. Zum Tratschen hatte ich keine Zeit. Verdächtig schaue ich mich um. An einem zentralen Ort sollten wir uns nicht treffen.

„Bevor ich dir alles weitergebe, will ich etwas wissen. Sagen dir die Namen Akram und Celal etwas aus?", fragte ich Cihan. Seinem abrupt ändernden Gesichtsausdruck nach, konnte ich feststellen, dass eine Bekanntschaft existierte.
„Woher kennst du sie?"
Missfallen zog er die Braue zusammen.
„Weißt du, was am 3. März passiert ist?", setzte ich die Fragerunde fort.
„Sag mir nicht, dass sie Kontakt zu dir aufgenommen haben!"
„Nicht zu mir, aber zu meinem Vater. Wer sind sie?"

Gefangen in dirWhere stories live. Discover now