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Jimin rannte eilig über die Straßen, die Spieluhr in seinen Händen. Die Kopfschmerzen waren wie vergessen, da sie von dem Adrenalin völlig übertönt wurden. Er war wahrscheinlich noch nie so schnell und eilig gerannt. Die Sonne war bereits untergegangen und die Straßenleternen beleuchteten ihm den Weg.

Es dauerte nicht lange, ehe er das Anwesen erreichte. Er stürmte den Gehweg entlang durch die offene Haustür, während er nach der Waffe griff. Er würde schießen, wenn etwas passierte. Er würde sowasvon abdrücken. Gnade zeigen würde ihm da Leben kosten, das wusste er. Und sein Überlebensinstinkt arbeitete nun auf Hochturen.

Er stieg beinahe lautlos die Stufen nach oben und er konnte Krächzen und Stöhnen aus seinem Schlafzimmer hören, welches sich definitiv nach Taehyung und Rio anhörte.

Jimin näherte sich leise der geöffneten Zimmertür, öffnete den Deckel der Spieluhr und drehte den Schlüssel fünfzehn mal gegen den Urzeigersinn. Schnell ließ er den Schlüssel los und klappte den Deckel zu, sodass die Zeitreise dadurch erstmal gestoppt wurde. Wenn er ihn öffnen würde, dann käme er keine Sekunde danach in der Zukunft an –in die Gegenwart eines Multiversum.

Er nahm Stimmen wahr, welche gequält klangen. Scheinbar lebten die beiden Verräter noch, auch wenn zwischen Jimins Flucht und seiner Rückkehr nur ungefähr zehn Minuten vergangen waren. Yoongi schien sie zu quälen. Ihr Bewusstsein zurückkommen und sie bitterlich erfrieren zu lassen. Ein langer, qualvoller Tod. Sowas war eigentlich nicht Yoongis Art, aber plötzlich sah er nur noch Rot. Er fühlte sich beinahe schon voller Leben, so zum greifen nah war das Gefühl des unendlichen Hasses.

Jimin wagte einen versteckten Blick in das Zimmer. Yoongi war mit dem Rücken zu ihm gedreht und stand vielleicht zwei Meter von ihm entfernt, während Taehyung und Rio noch immer in den verkrümmten Positionen da hockten und sich tatsächlich ganz schwach bewegen konnte. Manchmal zuckte deren Finger auf oder sie hauchten bettelnde Worte, die man nicht ansatzweise verstehen, gar hören konnte.

Yoongi drehte sich harsch um. Er hatte Jimins Anwesenheit gespürt. Sie sahen sich in die Augen und irgendwie schien der Blick des Geistes lebendiger denn je zu sein. Auch, wenn es verzerrt und beinahe agressiv wirkte. Es machte Jimin Angst. »Ich habe einen Plan, Yoongi.«, hauchte er zittrig, und irgendwie hatte er Panik davor, dass sich sein Freund vor lauter Wut blind auf ihn stürzen würde.

Aber stattdessen wurden seine Gesichtszüge ganz weich und er sah Jimin beinahe schon liebevoll und besorgt an. »Was machst du hier? Ich habe gesagt, dass du gehen sollst.« Jimin schüttelte seinen Kopf. »Wir können sie auch anders loswerden.«, sprach er und er hörte gleichzeitig von den beiden ein schmerzerfülltes Stöhnen.

»Sie haben dein Vertrauen missbraucht und dir weh getan. Sie werden dafür bezahlen, ich sorge dafür.«, sprach Yoongi und seine Stimme klang wieder so dunkel und rau. Da war nichts mehr von dem sanften Ton zu hören, den Jimin von ihm gewohnt war.

»Du wirst niemanden töten. Es gibt einen Weg, wie wir alle außeinander gehen können, ohne Opfer zu bringen.«

Jimin erklärte ihm die Idee, ließ dabei aus, dass sie von Gyeong, seinem Vater, war. Er hing am Ende dran, dass ihm dies auf der Flucht eingefallen wäre und er dies besser fünde als zwei weitere Leichen in seinem Haus. Und Yoongi schlug ihm diesen Vorschlag nicht ab, da es von seinem Jimin kam. Er vertraute ihm und würde ohne mit der Wimper zu zucken seine Hand ins Feuer legen, wenn Jimin ihm sagt, dass er es tun soll.

»Gut, dann machen wir es so.« Der Hass und die Wut klang zwar nicht in Yoongi ab, aber seine Stimme wurde ruhiger und es enspannte ihn, dass Jimin bei ihm war. Ihm ging es gut, und das war die Hauptsache.

Jimin ging auf Rio zu, welche ihren Kopf gesenkt und die Stirn beinahe zu Boden gedrückt hatte. Ihm tat es leid, dass sie solche Schmerzen verspürten, aber dieses bisschen Kälte war nichts in dem Vergleich, was sie ihm angetan hatten. Raub, Betrug, Vertrauensbruch. Und Taehyung hatte auf ihn geschossen. Das hing noch immer in Jimins Gedächnis, als wäre es erst gestern passiert.

Außerdem konnte er deren Bewegungsunfähigkeit und Lähmung nutzen, da die Kälte solch eine Überhand über sie hatte. Sie konnten sich nicht wehren und deren körperliche Kraft gegen ihn wenden, beziehungsweise überhaupt eine Flucht ansetzen. »Du kümmerst dich weiter um Taehyung, ja? Ich bin gleich wieder da.«

Jimin setzte sich zu Boden, hakte seinen Arm mit ihrem ein und öffnete dann den Deckel der Spieluhr, woraufhin sie dann aus Yoongis Blickfeld verschwanden.

Nur kurz schwebten sie zwischen Raum und Zeit ziellos umher, ehe sie dann wieder das Tageslicht umhüllte und auf dem Boden ankamen.

Sie standen im Erdgeschoss einer Firma, welches etwas mehr als einhundert Jahre in der Zukunft an dem Ort des Herrenhauses stehen würde. Es wurde wohl abgerissen, dachte sich Jimin und sah sich um.
Ein Glück war niemand da, sonst hätten sie ein ziemlich großes Problem gehabt.

Sie schienen in einem typischen Büro gelandet zu sein. Viele Tische mit nagelneuen Computern, die es in Jimins Gegenwart nicht einmal in Planung gab. Sie waren riesig, fast so groß wie ein durchschnittlicher Flachbildfernseher und es gab weder Tastatur, noch eine Maus. Er würde ziemlich gerne herausfinden, wie sie funktionierten, aber dafür war er nicht hergekommen.

Jimin sah auf Rio herab, welche noch immer wie vereist auf dem Boden lag und wahrscheinlich gar nichts sehen konnte, da ihr die Haare im Gesicht lagen. Es würde etwas dauern, bis sie sich überhaupt aufsetzen könnte. Aber das war Jimin egal.

Er zischte abschätzend und verspürte dieser Frau gegenüber, die er einst gemocht hatte, nichts mehr als blanken Hass. Aber er zügelte sich, griff wieder nach der Spieluhr und reiste in seine Gegenwart zurück.

In dieser schnappte er sich, genauso wie er es gerade schon getan hatte, Taehyung, und wenig später lagen die versteinerten Menschen zu Boden in dem modernen, futuristischen Büro.

Jimin musterte sie, hockte sich zu ihnen runter und schob Rios eisiges Haar zur Seite. Ihre Blicke trafen sich. Die Frau musterte ihn panisch, doch Jimin hatte keine Gnade mit ihnen. Er war froh, dass sie nicht sprechen konnten, da er deren flehen und betteln nicht ausgehalten hätte.

»Du wirst mir irgendwie fehlen..«, murmelte er der Barkeeperin zu und erhob sich dann langsam, blickte zu Taehyung, wie er bewegungslos da lag.

Jimin griff nach der Pistole, löste die Sicherung und zielte auf seinen Oberschenkel. Ein lauter Knall hallte durch das gesamte Gebäude, als die Kugel den Lauf verließ und sich schlussendlich in Taehyungs Bein bohrte.

Er gurgelte auf, wollte schreien, aber er konnte seine Zunge nicht mehr spüren.

Jimin widmete beiden einen letzten Blick, ehe er den Schlüssel in der Zeitmaschine drehte und verschwand.

The legend of the Min family ✓Where stories live. Discover now