Kapitel 3: Abschied

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Als wir den Raum durchquerten und uns durch die Menschenmenge schlängelten, spürte ich die Blicke meiner Familie auf mir.
Lord Thymeris ging voran und schob die Leute auseinander, um mir Platz zu machen. Viele der südländischen Gefolgsleute klopften dem Lord fröhlich auf die Schulter und sagten etwas zu ihm oder luden ihn zu einem gemeinsamen Bier ein, doch er entschuldigte sich bei allen. Als wir es hinaus geschafft hatten, schlug uns die kalte Nachtluft entgegen.
Mir schien, als würde er einmal kurz aufatmen, dann sah er mich an und führte mich die paar Stufen hinab auf den Hof. Hier draußen hingen nur wenige Leute herum, ein paar Betrunkene, einige Bedienstete von Schneewacht, die Nachschub besorgten und auch noch ein paar Stallburschen. Alle Pferde der Südländer waren in die Ställe geschafft worden. Die vornehme Kutsche, in der niemand gesessen hatte, war in eine Scheune geräumt worden, nur um in ein paar Stunden wieder hervorgeholt zu werden. An den Mauern der Gebäude waren Fackeln angebracht, die die Umgebung erleuchteten.
Kurze Zeit schlenderten wir schweigend über den Hof. Ich registrierte erst jetzt wirklich, wie groß Lord Thymeris eigentlich war. Ich reichte ihm nicht einmal ganz bis ans Kinn und trug bereits Absatzschuhe. Auch seine Schultern waren breit, bestimmt fast doppelt so breit wie meine und mein Oberarm passte garantiert dreimal in seinen.
Ab und zu spürte ich seinen Blick auf mir, ließ den meinen aber auf den Boden gesenkt.
"Ich sprach bereits mit Eurem Vater darüber... Wir werden morgen nicht nach Meereshorn aufbrechen."
Jetzt sah ich auf, ich spürte Hoffnung in mir aufkeimen. Blieb mir doch noch mehr Zeit in meiner Heimat, als ich dachte? "Nicht?"
Er schüttelte den Kopf, eine Locke löste sich von den anderen und fiel ihm in die Stirn. "Wir reiten in die Königsstadt, nach Feste Goldstern."
Das kleine Pflänzchen Hoffnung in mir zerfiel zu Staub. "Oh", machte ich, etwas zu bedrückt, er fasste es falsch auf.
"Wir werden schon nach Meereshorn reisen, aber erst in ein paar Wochen, drei Monate vielleicht. Ich werde in der Königsstadt erwartet, politische Angelegenheiten, für Euch nicht relevant."
"Ich verstehe." Eine ganze Weile schwiegen wir uns wieder an und schlenderten über den Hof. Mir wurde frisch, aber ich traute mich nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen, ich wollte nicht weichlich wirken. Es war eine ganz andere Sache die mir auf der Zunge brannte.
"Und die Eheschließung?"
"Wird in der Königsstadt vollzogen", erwiderte er knapp.
Ich schluckte hart. Auf den Gedanken an die Hochzeit kam ich immer noch nicht klar. Ich sah ihn von der Seite an. Ich fröstelte, musste wieder an den wilden Ausdruck in seinen Augen denken, als er mich heute Nachmittag ansah.
"Ist Euch kalt?" Er blieb stehen und wandte sich zu mir um, sodass mein Arm herab fiel.
"Oh nein! Es geht schon."
Doch er schälte sich bereits aus seinem festlichen Mantel und legte ihn mir um die Schultern. Er kam mir nah dabei, so nah, dass ich seine Wärme spüren konnte, doch schon eine Sekunde später war er wieder zurück getreten.
"Danke", murmelte ich beschämt und zog seinen Mantel fester um mich. Er war wunderbar warm und roch angenehm.
Als wir jetzt weiter gingen, konnte ich mich nicht mehr bei ihm einhaken und so gingen wir mit etwa einem Meter Abstand zwischen uns in einer kleinen Runde zurück in Richtung Empfangshalle.
"Habt Ihr persönliche Dienerinnen, Lady Aree?"
Ich schüttelte den Kopf, etwas erstaunt über die Frage. "Nein, Mylord. Wir wurden sehr eigenständig erzogen."
"Hm", machte er nur. Als wir der Halle näher kamen, hörten wir bereits fröhliche Stimmen aus dem Inneren. Vor der Tür blieb er noch einmal stehen, bereits die Hand auf dem Türknauf. "Ich habe zwei Zofen für Euch. Sie werden Euch jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Ab heute werdet Ihr Eure Sachen nicht mehr alleine wegräumen müssen."
Damit öffnete er die Tür und ließ mich vor sich eintreten.

Vater und Mutter lächelten, als wir uns näherten. Vor dem Tisch wandte ich mich zum Lord um und gab ihm seinen Mantel zurück, den er sich allerdings nicht überstreifte, sondern beiläufig über die Lehne seines Stuhls warf, bevor er meinen zurück zog.
"Danke", murmelte ich, wartete noch, bis er sich ebenfalls setzte und wandte mich dann zu Cathleen, musste jedoch feststellen, dass sie fort war. Ich sah mich gerade nach jemandem um, den ich nach ihr fragen konnte, da wurde der Stuhl zurückgezogen und Arlisar setzte sich neben mich.
"Na, Schwester." Er lächelte sanft.
"Wo ist Cathleen?"
"Sie wurde nach Hause gerufen, ihre Mutter ist scheinbar erkrankt."
"Oh nein. Wie geht es ihr?"
Er zuckte bedauernd die Schultern. "Das weiß ich leider nicht. Aber ich bin mir sicher, morgen früh wirst du Cathleen noch einmal sehen." Er hob die Hand und legte sie über meine. "Du siehst müde aus. Willst du dich nicht zurückziehen?"
"Darf ich das denn? Ich meine... Sie alle sind ja irgendwo wegen mir hier."
Arlisar schnaubte amüsiert. "Aber ich bin mir recht sicher, dass es ihnen lieber ist, wenn du dich jetzt verabschiedest, als dass du morgen aus der Kutsche kippst."
"Darf ich nicht selber reiten?", fragte ich völlig bestürzt. Mein Pferd wollte ich auf keinen Fall zurück lassen.
"Die Kutsche ist für dich vorgesehen. Oder glaubst du etwa, sie nehmen sie nur aus Spaß mit?" Er grinste. "Keine Angst, deine Stute wird mitkommen."
Ich stieß erleichtert die Luft aus. Wenigstens EIN weiteres Lebewesen mit nordischem Blut.
Schließlich stand ich auf, entschuldigte mich bei Lord Thymeris, welcher mir eine angenehme Nachtruhe wünschte, und umarmte und küsste meine Eltern. Meinen Brüdern winkte ich zu, dann entfernte ich mich aus dem Saal und machte mich auf den Weg in eine unruhige und schlaflose letzte Nacht in meinem eigenen Bett in Schneewacht.

~
Der Morgen war noch jung, als wir erneut alle versammelt auf dem Hof standen. Die kleine, aber für mich sehr schwerwiegende Änderung war, dass ich vor meiner Familie stand und nicht zwischen ihnen, wie normal.
Als erstes fand ich mich in Arlisars Armen wieder.
"Ich werde dich vermissen, kleine Schwester", murmelte er mir ins Ohr und drückte mich fest. Sofort traten mir die Tränen in die Augen. "Ich dich auch."
Lord und Lady Braiden standen Hand in Hand da, als ich vor sie trat. Mutter standen ebenso wie mir Tränen in den Augen, als sie mich in den Arm nahm und küsste. Worte brachte sie keine heraus. Vater lächelte leicht, aber auch in seinem Blick stand Abschiedsschmerz. "Leb wohl, mein kleiner Stern. Sei Ihm eine gute Ehefrau und vertrete den Norden dort unten."
Dem kleinen Arley, der seelenruhig in den Armen seiner Amme schlief, gab ich einen sanften Kuss auf die rosa Wangen und strich ihm durch die wenigen blonden Haare, die er schon hatte.

Arjon stand steif und mit grimmigem Blick da und sagte nichts, als ich ihn kurz an mich drückte und seine Wange küsste.
Arden weinte aus allen Drüsen, auch wenn er es zu unterdrücken versuchte.
"Wenn er gemein zu dir ist, dann ruf mich. Dann verhaue ich ihn so sehr, dass er sein Leben lang nicht mehr sitzen kann."
Durch meine Tränen hinweg musste ich tatsächlich kurz lachen. "Ich gebe dir sofort Bescheid."
Auch von Meister Devid und den Hausangestellten verabschiedete ich mich. Meister Devid drückte mir einen kleinen Stapel Bücher in die Hand. Er meinte, auf der langen Reise würde ich viel Zeit und Langeweile haben. Es waren einige der Bücher, die ich im Winter vor dem Kamin gerne gelesen hatte. 
Als letztes stand ich vor Cathleen. Sie presste die Lippen aufeinander und blickte mich traurig an. "Vergiss nie, wo du her kommst." Wir fielen uns in die Arme und mir brachen die Tränen aus den Augen. "Ich werde dich für immer in meinem Herzen tragen", flüsterte sie mir zu.

Und dann kam der Moment, als ich ihnen allen den Rücken zuwenden und in die Kutsche steigen musste. Sie winkten mir alle zu, bis wir die Festungsmauern passierten und auf die weite Ebene fuhren. Noch Minuten danach starrte ich auf die kleiner werdende Feste Schneewacht, die mein ganzes Leben lang mein Zuhause gewesen war; in der ich aufgewachsen war, Laufen und Sprechen gelernt hatte, Lesen und Schreiben; in der ich viele Stunden gelacht und geweint hatte und mit meinen Geschwistern umher getollt war. Das alles gehörte nun der Vergangenheit an. Und als die Feste vom Horizont verschwand, rollte ich mich klein zusammen und weinte hemmungslos.

Stern des NordensWhere stories live. Discover now