Kapitel 65: Der Stern des Nordens

4.6K 260 20
                                    

„In den Legenden war sie eine junge Frau, die einst vor hunderten von Jahren im Norden lebte. Sie stammte aus bäuerlichen Verhältnissen, doch man sagt ihre Anmut war die einer Adeligen und ihr Blick der einer Gelehrten. Ihr sanftes Wesen zog sogar die Geister der Natur an, mit denen sie auch zu sprechen vermochte und die Menschen in den Dörfern munkelten, sie hätte Heilkräfte. Ihre Schönheit zog über die Jahre viele Freier an, doch sie lehnte jeden von ihnen ab und entschied sich für ein Leben ohne Heirat in der Natur. Aber ein hochgeborener Mann aus dem Süden, ein Lord, ein Ritter oder vielleicht auch ein König, fühlte sich durch ihre Ablehnung in seiner Ehre gekränkt, unbedingt wollte er sie zur Frau. Er stellte ihr nach, bedrängte sie und eines Nachts nahm er sie gewaltsam, gegen ihren Willen. Als er seine Schandtat beendet hatte, sah sie in sein Gesicht und sprach: 'Meinen Körper vermagst du zu brechen und zu deinem Besitz zu machen. Doch meine Seele bleibt mein Eigen, unbrechbar und dir niemals untertan. Eher würde ich tausend Tode sterben, als deine Frau zu sein.' Den Hochgeborenen erzürnten ihre Worte und in seiner Wut erstach er sie, mit hundert Hieben in ihren Körper. Und mit dem hundertsten Mal, in dem sein Messer ihre Brust durchbohrte, befreite sich ihr Herz. Ihre Seele stieg aus ihrem Körper, mit einem Strahlen, dass den Hochgeborenen erblinden ließ. Rein und ohne Hass wie ihre Seele war, ging sie empor in den Himmel der Nacht, in welchem ihr Licht noch immer strahlt und den armen, verlorenen Geistern in der Dunkelheit den Weg weist."

„Der Nordstern", murmelte Rajan leise und starrte nachdenklich an das rote Tuch über dem Bettgestell, bevor er den Kopf drehte und mich mit einem schiefen Lächeln bedachte. „Oder der Stern des Nordens."

„Richtig." Ich nestelte mit den Fingern am Saum der Bettdecke, die ich mir bis über die Brust hochgezogen hatte. Vom Licht der Kerzen warfen sie zuckende Schatten über den weichen Stoff. „Seit jeher nennt man die Töchter der nördlichen Lordschaft die 'Sterne des Nordens'. Eine Anlehnung an die Schönheit und Anmut, aber auch an das sanfte Wesen und den starken Willen der Frau."

Einen Moment musterte er schweigend mein Gesicht.
„Das ist eine beeindruckende Geschichte", meinte er dann. „Faszinierend. Stark."
Er hob die Hand und strich mit der Rückseite seines Fingers über meine Wange. „So wie du. So wie du es sein musstest."

Betroffen wand ich den Blick ab und betrachtete wieder die Bettdecke. Ich fühlte mich nicht stark. Ich hatte nichts großartiges getan. Vielmehr hatte ich Chaos angerichtet. Und Gefühle verletzt.

„Du müsstest mich hassen", flüsterte ich.
„Müsste ich das?", murmelte er und umfasste eine der Strähnen, die auf meiner Schulter lagen. „Ich wüsste nicht warum."
„Weil ich dich belogen habe. Geheimnisse vor dir hatte." Ich biss mir auf die Lippe. „Dich verletzt habe."

„Ssh." Mit einem Finger brachte er mich zum Schweigen. „Erinnerst du dich noch was du zu mir sagtest? Wenn das alles hier vorbei ist, willst du alles anders machen." Er lächelte sanft. „Ich auch. Wenn das alles ein Ende gefunden hat, dann lass es uns gemeinsam anders angehen."

Es wurde warm um mein Herz, während ich sein Gesicht musterte.
Rajan musste viele Rückschläge mit mir einstecken. Musste mich mehrere Male vor den Konsequenzen meines eigenen Handels schützen. Trotzdem verlor er nie die Geduld mit mir.
Vorsichtig drehte ich mich auf die Seite und lehnte mich über ihn. Etwas in seinem Blick veränderte sich, wurde beinahe begierig. Seine Hände legten sich um meine Taille und er hob den Kopf, um mir entgegen zu kommen. Ich ahnte was er vorhatte, vielleicht auch was er dachte, das ich tun wollte. Doch ich musste noch etwas wissen.

Im letzten Moment drehte ich den Kopf ein Stück zur Seite, sodass seine Lippen nur meine Mundwinkel trafen.

„Woher wusste Odrick, dass ich den Lord Sch-" Ich stockte, denn Schatzmeister war Laurel Verydian nicht mehr. „Dass ich Lord Verydian im Gewölbe gesehen habe."

Seine braune Augen zeigten einen winzigen Augenblick Überraschung. Vermutlich hatte er in diesem Moment an alles gedacht, aber nicht mehr an die düsteren Geschehnisse des Tages. Doch wie immer fand er sofort die Fassung wieder.

„Hast du mit ihm geredet?"
„Ja, habe ich", antwortet er und ließ sich zurück ins Kissen fallen. „Es hat mich heute selbst verwundert, dass er meine Worte von damals überhaupt wahr genommen hatte, denn als ich ihm davon erzählte, verwies er mich sofort des Raumes. Er war nur wütend, dass ich ihn mit solch lückenhaften Geschichten aufhielt. Doch mehr wusste ich von dir ja auch nicht." Er bedachte mich mit einem zögerlichen Lächeln. „Zumal ich mir selber nicht ganz sicher war, ob ich es glauben sollte. Schließlich warst du verletzt und traumatisiert."
Mit zwei Fingern strich ich ihm eine dunkle Locke aus der Stirn und erwiderte das Lächeln zaghaft.
„Ich bin froh, dass du es dennoch getan hast. Wer weiß, wie wir sonst heute geendet wären."
„Denk nicht darüber nach", flüsterte er und ergriff meine Hand, die noch an seiner Schläfe ruhte. „Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit. Arjon ist in Sicherheit. Ich denke nachdem der gefährlichste Verräter hier im Schloss endlich gestellt ist, werden sich die Dinge klarer Regeln lassen."
„Und ich schätze mal, da der König nach dem Essen nicht aufgetaucht ist, bin ich seiner Züchtigung entgangen?" Es war ein kläglicher Versuch einen Witz zu machen, doch er grinste zumindest kurz.
„Ich hätte das niemals zugelassen, das weißt du hoffentlich."
„Nun, er klang nicht so als würde er Späße machen."
„Hat er auch nicht. Aber grundsätzlich ist Rick kein grausamer Mensch. Wenn er sich bis zum Abend nicht beruhigt hätte, hätte ich alles daran gesetzt ihn umzustimmen. Oder wir wären gegangen."

Er drückte gegen meinen stützenden Arm, sodass ich zurück auf den Rücken fiel. Jetzt war er es, der über mir beugte.
„So oder so. Wir werden nach Meereshorn aufbrechen." Er küsste meine Finger. „Ich kann es kaum erwarten, dir meine Heimat zu zeigen."
Das jungenhafte Glitzern in seinen Augen brachte mich unweigerlich zum Lächeln, doch innerlich zog sich etwas in mir zusammen. Die Weiterreise war ein Thema, dass ich in den letzten, ereignisreichen Wochen komplett verdrängt hatte. Zwar hatte ich mich an Rajan und die Gegebenheiten als Lady Thymeris weitestgehend gewöhnt, doch in meinem neuen Leben war ich noch immer nicht angekommen.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen", sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. „Ich bin bei dir. Wir gehen das gemeinsam an."
Dann wurde sein Blick zärtlich. Er lehnte sich hinab, legte seine Lippen sanft drängend auf meine und drückte mich tiefer in die Kissen.

Stern des NordensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt