Kapitel 47: Vorwände und Wahrheiten

5K 382 19
                                    

„Aree." Rajans Stimme klang lauter von draußen. „Ich komme jetzt rein!"
Mein Herz setzte einen Schlag aus, das Blut rauschte mir in den Adern und ich sah hilflos zu, wie die Klinke der Tür nach unten gedrückt wurde.
„Ich bin nicht angekleidet!", brüllte ich aus einem letzten Instinkt heraus.
Erst wurde es mucksmäuschen still. Dann wanderte die Klinke langsam wieder nach oben und sprang in ihre ursprüngliche Haltung zurück. Die Tür blieb geschlossen.
Ich gönnte mir nur einen winzigen, erleichterten Seufzer, dann packte ich Demian am Arm und zog ihn mit mir.
„In meinen Kleiderschrank!", zischte ich aus der Idee heraus und riss die Türen auf.
„Uh, hast du da auch-"
„Klappe!", unterbrach ich ihn energisch und ignorierte das obszöne Grinsen in seinem Gesicht.
Schnell schob ich die Kleider auseinander und er zwängte sich gehorsam hinein. Das dürfte ganz schön unbequem für ihn werden, aber selber Schuld, wenn er sich heimlich und ungebeten in mein Zimmer schlich!
„Da bleibst du und wehe, wenn ich nur einen winzigen Mucks von dir höre!" Ohne auf eine Antwort zu warten knallte ich die Schrankflügel zu.
Eilig legte ich noch den Schmuck ab, warf mir den Seidenmantel über, der an meinem Paravent hing und lockerte meine Frisur ein wenig. Es sollte schließlich den Anschein machen, als wenn ich mich tatsächlich gerade gewaschen oder ausgeruht hätte.
Jetzt zog ich noch meine Schuhe aus, stellte sie ordentlich beiseite und tapste dann barfuß zur Tür.

„Hallo, Rajan", murmelte ich als ich ihn eingelassen hatte, lächelte ihn brav an und versuchte nicht ganz so schuldig zu gucken, wie ich mich fühlte. „Tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen."
Er lächelte zurück und kratzte sich verlegen im Nacken.
„Mir tut es leid. Ich dachte, irgendetwas würde nicht stimmen und da... Verzeih mir."
„Es gibt nichts zu verzeihen. Ich wollte mich nur waschen, es war so warm heute und ich hatte nicht mit dir gerechnet." Mir wurde fast schlecht, so verlogen kam ich mir vor. Schockierend war auch, wie leicht mir die Lüge über die Lippen kam.

„Du musst dich nicht rechtfertigen."
Die Hitze stieg mir ins Gesicht vor Scham. Wie war das mit der leichten Lüge? Diese Reaktion kam mir doch vertrauter vor. Zum Glück deutete er es anders.

„Oh, also... wenn ich dich gestört habe, dann eh... also, ich kann wieder gehen, wenn..."
„Nein, nein, ich bin fertig."

„Ehm, gut."
Peinliche Stille trat zwischen uns ein. Ich zupste an meinem Mantelkragen herum, während er sich unsicher am Kinn kratzte.
„Also, ich..." Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Mein Herz drohte einen Augenblick lang stehen zu bleiben, als er zum Schrank sah, doch er seufzte nur und schaute wieder zu mir. „Nun, wegen Carla..."

Carla! Es war noch gar nicht lange her, doch die Sache mit Demian hatte es mich irgendwie verdrängen lassen. Und apropos Demian, es war streng geheim, dass ich mit Carla geredet hatte! Er durfte nichts davon erfahren! Und Rajan hatte keine Ahnung, er dachte wir wären allein!
„Wollen wir nicht raus gehen?", platzte ich schnell dazwischen und lächelte möglichst unschuldig.
„Eh, was?" Rajan sah mich irritiert an. „Es wird dunkel draußen..."
Mist.
„Na und? Dann ist es wenigstens nicht mehr so warm."
„Aber du bist doch nicht angekleidet..."
„Das kann ich doch ändern?" Etwas verstimmt verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Aber wir müssen ja nicht, wenn du nicht willst."
Vielleicht ein bisschen riskant, aber ich war mir sicher, dass er anbiss. Und ich hatte recht.
„Doch, doch, natürlich können wir raus, ich dachte nur... also..." Er lachte auf und rieb sich über die Augen. „Tut mir leid, es war ein seltsamer Tag heute. Ich bin wohl nicht so ganz auf der Höhe. Zieh dich an, ich warte draußen."
Er machte einen Schritt auf mich zu und es sah so aus, als wollte er sich zu mir herunterbeugen, doch im letzten Moment zögerte er und überlegte es sich doch anders. Mit einem letzten nervösen Lächeln nickte er mir zu und verschwand dann aus dem Raum.

Rajan war deutlich verunsichert und mir wurde auch schmerzlich bewusst warum. Er hatte mir vorhin seine Liebe gestanden und ich war abgehauen. Ich hätte mich, wäre es anders herum, vermutlich nie wieder unter seine Augen getraut.
Eilig riss ich mir den Mantel runter und hüpfte zum Spiegel um meine Haare wieder einigermaßen zu richten. Am liebsten hätte ich mir auch ein anderes Kleid angezogen, aber ein gewisser jemand hockte in meinem Schrank und ich würde mich garantiert nicht ausziehen, während er im Raum war.
Ich warf einen bitterbösen Blick in seine Richtung, auch wenn er den durch die Türen gar nicht sehen konnte, und schlüpfte in meine Schuhe. Sollte er doch jetzt alleine zusehen, wie er hier wieder herauskam.

Stern des NordensWhere stories live. Discover now