Kapitel 33: Das Turnier - IV

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„Jawoll!", brüllte Odrick und konnte sich kaum auf dem Stuhl halten, während ich mir am liebsten die Ohren zu gehalten hätte, als seine tiefe Bassstimme mein rechtes Innenohr zum Vibrieren brachte. „Genau so wird es gemacht! Das ist mein Vetter! Wie ein überreifes Schwein hat er ihn aufgespießt!" Triumphierend reckte er seine Faust in die Höhe.
So viel zum Thema unparteiisch.
Sir Edwin Mirell rollte sich stöhnend auf den Rücken, während Rajan, wie schon die drei Runden zuvor, in einer ausschweifenden Kurve um die Absperrung herum geritten kam, begleitet vom lauten Jubel des begeisterten Publikums.
Das hölzerne Wappen von Meereshorn auf der großen Tafel wurde abgenommen und einen Steckplatz höher gesetzt, das Wappen von Sonnenhöh wurde entfernt. Wenn Rajan im nächsten Kampf siegte, dann stand er im Finale. Sein Gegner würde der zweite Sohn des Lords von Silberlerchen sein, Jeremin Dravíl . Ich kannte ihn aus dem vorherigen Zweikampf. Er war ein hochgewachsener Jüngling mit hellbraunem Haar, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich, und alles in allem sehr unscheinbar. Doch im Tjost war er wahrhaft talentiert. Schnell, gewandt und treffsicher, auch wenn er zu schüchtern schien um auf die Zusprüche des Publikums nach seinem Sieg einzugehen. Lieber spornte er sein weißes Pferd an, um schnell wieder hinterm Platz zu verschwinden. Therisa erzählte mir, dass es seine erste Teilnahme an einem offiziellen Turnier war.
Kaum dass Sir Mirell aufgeholfen und er vom Platz geführt worden war, wurde die nächste Runde und damit der nächste Zweikampf angesagt. Therisa verzog das Gesicht, als der Name Matthes Oakwin genannt wurde. Schon bei seinen vorherigen Kämpfen schien sie alles andere als glücklich.
„Er wird nächstes Jahr siebzig. Wieso kann er die Turniere nicht endlich sein lassen und einen seiner Wappenritter teilnehmen lassen?", raunte sie mir aufgebracht zu. „Jedes Jahr wieder zwingt er meinen Vater seine Aufgaben in Waldherz zu übernehmen, nur um hierher zu reisen. Vielleicht hat er es jetzt in die Runde vor dem Finale geschafft, aber sein letzter Sieg ist über dreißig Jahre her!"
Odrick neben mir lachte. „Als ich jünger war wurde mein Vater, am Ende der damaligen Rebellion, zu einem Zweikampf herausgefordert. Als Geschworener der Krone bestand Lord Oakwin darauf für den König anzutreten. Es war ein harter und erbitterter Kampf und am Ende siegte Euer Großvater dadurch, dass er seinen Gegner mit einer Kopfnuss ohnmächtig schlug. Sein Dickschädel ist schon legendär!"
Ich sah zu dem Ritter mit dem dunkelgrünen Umhang, der so eben auf den Platz geritten kam und musste schmunzeln. Lord Oakwin schien mir schon immer wie ein eifriger und entschlossener Krieger, der auch trotz vorangeschrittenen Alters noch sehr gut in Form war. Er war ein starker Verbündeter und Freund von Schneewacht, ich wusste, dass Vater schon immer viel von ihm gehalten hatte.

Ich erwachte aus meiner Träumerei, als Therisa scharf die Luft einzog und Odrick sich mit einem undefinierbaren Knurren zurücklehnte. Mein Blick huschte zur anderen Seite, wo soeben ein dunkelbraunes Pferd auf den Platz trabte. Es warf unruhig den Kopf hin und her und tänzelte nervös, doch sein Reiter schien keineswegs beunruhigt, sondern hielt es mit kurzem Zügel an Ort und Stelle. Ein junger Bursche kam herbeigeeilt und mühte sich mit der schweren Lanze ab. Ich erkannte sowohl den Jungen, als auch das Pferd wieder und runzelte die Stirn.
„Wer ist er?", fragte ich an Therisa gewandt, welche ihre Finger steif in die Armlehnen gekrallt hatte.
„Demian Kasgarth. Er nahm vor fünf Jahren das letzte Mal teil und gewann. Wie man in seinen letzten Zweikämpfen gesehen hat, hat er kein Stück nachgelassen." Ihr Blick huschte zu Lord Oakwin und wurde besorgt. „Großvater wird wieder übellaunig sein, wenn er ausgerechnet von ihm besiegt wird."
Ich glaubte mich vage an den Ritter mit dem schwarzen Umhang und dem Schlangenkopf auf dem Rücken erinnern zu können, aber um ehrlich zu sein hatte ich bei den Zweikämpfen, in denen nicht grade Rajan teilgenommen hatte, wenig aufgepasst. Turniere waren eben doch nicht meins.


Auf das Signal hin trieben beide Kämpfer ihre Pferde an und preschten mit erhobenen Waffen aufeinander zu. Ich sah aus den Augenwinkeln wie Therisa im letzten Moment die Hand vor die Augen legte und es war berechtigt. Demian Kasgarth traf Lord Oakwin mit voller Wucht direkt gegen die Brust, während er selbst sich haarscharf unter der Lanzenspitze des Lords von Waldherz wegducken konnte. Man hörte einen kurzen Aufschrei, als er aus dem Sattel gerissen wurde und ein dumpfes, schepperndes Geräusch, als er auf dem harten Boden aufschlug.
Das Publikum brach in Jubel aus, doch ich hielt die Luft an. Lord Oakwin bewegte sich nicht mehr. Er lag einfach unbewegt da, den langen Umhang halb über sich ausgebreitet, die Lanze einige Meter neben sich. Ein Page lief herbei und kniete sich neben ihn. Vorsichtig streckte er die Hand nach seinen Visier aus – und wurde grob weggeschubst. Lord Oakwin riss sich den Helm vom Kopf und kämpfte sich sichtlich erzürnt hoch. Erleichtert stieß ich die Luft aus. Einen Moment hatte ich wirklich befürchtet...
„Tja, also wenn Rajan den Dravíl schlägt, geht es im Finale wohl gegen Kasgarths Sohn." Es war das erste Mal heute, dass ich Odrick ganz gefasst und nachdenklich in seinem Stuhl sitzen sah. Als er meinen Blick bemerkte sah er auf und begann augenblicklich wieder zu grinsen. „Sollte kein Problem für ihn sein." Sofort saß er wieder kerzengrade und wedelte mit einer Hand in der Luft herum. „Los, los! Wann geht es denn weiter? Wenn wir noch länger warten verpasse ich heute Abend meine eigene Geburtstagsfeier!"
Die Runden zogen sich wirklich schon länger hin und ich fand auch, dass das Ganze endlich mal zum Ende kommen sollte. Nur bemitleidete ich Rajan etwas, der, nachdem er im letzten Zweikampf der vorherigen Runde gekämpft hatte, nach nur einem einzigen kurzen Kampf schon wieder antreten musste. Vermutlich hatte sich nicht einmal das Absteigen gelohnt. Außerdem musste es verdammt heiß sein unter den schweren Rüstungen und dem langen Stoff, welcher starke Reibungen auf der Haut verhindern sollte.
Trotzdem sah man ihm an seiner Haltung keinerlei Erschöpfung an, als sein großer Brauner auf den Platz trabte. Er ließ die Zügel ganz locker und damit seinem Pferd die Freiheit sich selbst zu platzieren. Es schien die Startposition bereits zu kennen, denn es blieb auf der rechten Seite der Absperrung entspannt stehen.
Jeremin Dravíl lenkte sein Pferd zu der gegenüberliegenden Position. Er trug seinen Helm noch unterm Arm und so konnte ich den unbehaglichen Blick, den er Rajan zuwarf, nur allzu deutlich erkennen. Ich sah ebenfalls zu Rajan, dessen Visier schon gesenkt war. Doch auch wenn ich sein Gesicht hätte sehen können, glaubte ich nicht, dass er irgendwelche Gefühlsregungen durchklingen lassen hätte. Ich stand auf seiner Seite, ebenso wie Odrick und Therisa hielt sich neutral, daher kannte ich die Ansichten der Gegenseite nicht, doch er schien relativ gefürchtet zu sein. Natürlich, bisher hatte er die Kämpfe alle unbeschadet für sich gewonnen.

Nervös knetete ich meine Finger und beobachtete, wie der Mann mit der Signalflagge in die Mitte schritt und einmal zu jeder Seite schaute, um zu überprüfen, ob beide Parteien bereit waren. Zeitgleich mit dem Moment, in dem er die Flagge runter riss, erklang eine Fanfare und sowohl Rajan, als auch Jeremin gaben ihren Pferden die Sporen. Unter den Hufen wirbelte der Staub auf, als sie aufeinander zupreschten.
Rajan senkte die Lanze und winkelte den Arm aus, während er sich vorbeugte, um einerseits dem entgegen strömenden Wind und andererseits Jeremin nur wenig Angriffsfläche zu bieten. Mein Blick war fest auf ihn geheftet, während er sich immer weiter der Mitte und damit seinem Gegner näherte.
„Du schaffst das, du schaffst das", hörte ich Odrick neben mir murmeln, der ebenso gebannt wie ich auf das Geschehen starrte.
Direkt frontal vor unserer Tribüne schnellten die Lanzenspitzen aneinander vorbei, jeweils auf den heran rasenden Körper des anderen gerichtet.
Eine Sekunde, ein letzter Schlag, bevor mein Herz komplett auszusetzen schien. Odrick sprang halb auf und erstarrte in der Bewegung. Meine Hand zuckte hoch zu meinem Mund, den ich vor Schock aufgerissen hatte.
Jeremins Lanze erwischte Rajan an der Seite und zerbarst an seiner Rüstung. Er geriet ins Taumeln und schien das Gleichgewicht zu verlieren. In letzter Sekunde jedoch konnte er noch rechtzeitig seine Holzwaffe hochreißen, um sich auszubalancieren. Aber nicht nur Rajan schwankte gefährlich, auch Jeremin schien getroffen und ruderte mit dem freien Arm in der Luft, bevor er den Sattelknauf zu fassen bekam und sich daran festkrallte.
Als die Pferde am Ende der Bahn ankamen, hatten beide Reiter sich wieder gefangen. Ein Raunen ging durch die Menge. Ein Unentschieden, das erste in diesem Turnier.
Odrick und ich stießen gleichzeitig die Luft aus und ließen uns zurückfallen. Meinetwegen hätten sie es ruhig weniger spannend machen können.

Es gab keine Pause, wie sonst zwischen den Runden oder Zweikämpfen. Stattdessen wurde nur gewartet, dass die Ritter wieder ihre Positionen einnahmen.
Der König war aufgestanden und an die Brüstung getreten. „Komm, Rajan", zischte er seinem Vetter zu, als dieser vorbeiritt. „Jetzt hau ihn runter! Ich will noch sehen, wie du Kasgarth den Arsch versohlst!"
Doch er wandte nur kurz den Kopf und machte eine vage, undefinierbare Handbewegung.
Den Kämpfern wurden neue Lanzen gebracht, da beide zerborsten waren. Ich sah an seinen Schultern, dass er zweimal tief durchatmete, bevor er die Waffe richtig fasste und eine konzentrierte Haltung einnahm.
'Komm schon, du kannst das schaffen', sprach ich ihm innerlich zu. 'Ich glaube an dich!'
Wieder beobachtete ich unruhig, wie der Mann in die Mitte trat, die Flagge schwenkte und die Fanfare erklang. Es ging regelrecht ein Ruck durch Rajans Streitross, als es vom Stand mit einigen kräftigen Sprüngen in den Galopp wechselte. Er lehnte sich vor, hielt in einer Hand die Zügel, in der anderen die Lanze. Ich sah mein Seidentuch, dass noch immer um sein Handgelenk gebunden war. Es sollte ihm Glück bringen, ich sollte ihm Glück bringen. Er musste es einfach schaffen!
Ich sah zu Jeremin rüber. Er schien Rajans Bewegungen widerzuspiegeln. Leicht vorgebeugt, die Lanze gut ausbalanciert und gleichzeitig die Schenkel fest an den Sattel gepresst. Ein entschlossener Gegner.
Es war nur ein kurzer Moment, fast nicht zu bemerken, doch er verlor diese Haltung, noch bevor er sich mit Rajan kreuzte. Ich hatte nicht erkennen können, was geschehen war, doch seine Spannung lockerte sich deutlich, er schien die Kontrolle zu verlieren, seine Lanze schwenkte seltsam nach außen, während er selbst sich aufrichtete und irritiert die freie Hand zum Gesicht hob.
Ich wusste es, das war Rajans Chance. Jeremin war abgelenkt worden, hatte durch was auch immer seine Konzentration verloren. Er konnte ihn nun leicht erwischen und aus dem Sattel heben.
Auch Odrick hatte es bemerkt. „Los!", schrie er.
Und Rajan – hob die Lanze und die beiden donnerten ohne jegliche Berührung aneinander vorbei.

Mir stand der Mund offen, Therisa stand der Mund offen und vermutlich jedem anderen Zuschauer stand in dem Moment der Mund offen. Es herrschte Totenstille auf dem Platz. Nur das Rutschen der Hufe und das Schnauben der Pferde, sowie der Wind, der leicht, aber hartnäckig pfeifend den Sand aufwirbelte, waren zu hören.
Odrick schien zuerst die Fassung zu erlangen. „Nein!", brüllte er. „Rajan, nein!"
„Er hat sich disqualifiziert", erklang im Kontrast dazu Therisas sanfte Stimme neben mir.
„Warum?!", donnerte der König weiter, während er die Brüstung so fest umklammerte, dass man befürchten konnte, er reiße sie gleich ab.
Fassungslos fuhr ich zu Therisa herum. „Was?"
„Das wäre dein Sieg gewesen! Dein Sieg!"
Ihre grünen Augen trafen meine, ihr Blick ganz nüchtern. „Er hat den eindeutigen Zug nicht ausgespielt. Damit ist er disqualifiziert und vom weiteren Turnier ausgeschlossen."

Stern des NordensWhere stories live. Discover now