Kapitel 55: Mein Herz

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Ein Seufzen unterdrückend trat ich aus der Tür in den Gang. In diesem Trakt war eindeutig mehr los, als in dem, in welchem unsere Gemächer lagen. Viele Bedienstete liefen hin und her, voll beladen mit Körben, Decken, Vasen und allerlei Erdenklichem. Ein junges Mädchen mit Stoffrollen auf dem Arm huschte direkt an mir vorbei und in die Räumlichkeiten, aus denen ich soeben herausgekommen war.
An der gegenüberliegenden Wand warteten Baliin und Cyriac geduldig. Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit ich beim Schneider verbracht hatte, aber der Nachmittag war schon längst vergangen und durch die Fenster am Ende des Ganges erkannte ich, dass es draußen bereits dunkel war.

Mein Hochzeitskleid war nahezu fertig, deswegen wurde ich nach dem Mittag zum Hofschneider gerufen, um letzte Anpassungen zu unternehmen. Soweit ich es beurteilen konnte, war der Schnitt ganz hübsch, aber bei der Einrichtung des Zimmers hatte man jegliche Spiegel vermieden.
Jedenfalls stand ich eine gefühlte Ewigkeit auf einem niedrigen Sockel und versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen, während circa ein Dutzend Schneiderinnen um mich herum wuselten, den Stoff absteckten und irgendetwas annähten. Jetzt taten mir sämtliche Gliedmaßen weh und ich war froh, einfach nur noch in mein Zimmer zu gehen und ins Bett fallen zu können.

Still wie immer folgten mir meine Gardisten, als ich mich auf den Weg durch die Gänge machte.
Eigentlich hatte ich etwas Hunger, doch das Abendessen hatte ich vermutlich wieder einmal verpasst, so nahm ich mir einfach vor, Roya zu bitten, mir ein paar Kleinigkeiten zu holen.

Der Tag beim Schneider hatte mir wieder ins Bewusstsein gerufen, was mir bevor stand.
Lediglich der morgige Tag blieb mir als Aree Braiden. Danach würde man nur noch als Lady Thymeris von mir sprechen.

Der Gedanke löste gemischte Gefühle in mir aus. Zuerst dachte ich es würde ein neues Leben für mich beginnen. Dann aber wurde mir bewusst - es war doch schon lange nicht mehr das alte.
Was würde sich denn ändern? Ich müsste mir mit Rajan die Gemächer teilen. Aber sonst? Ich würde mit ihm weiterreisen, fremden Menschen begegnen und weiterhin die wohlerzogene, starke Frau sein müssen, die ich doch jetzt auch vorgab zu sein. Es war doch schon die ganze Zeit nicht mehr wie früher. Zwar hatte ich jetzt noch meine Brüder, aber auch das Verhältnis mit ihnen war nicht mehr das alte. Wenn wir uns einmal sahen, war es ab und zu beim Essen oder vielleicht ganz zufällig auf den Fluren.

So wirklich wegen mir oder der Hochzeit waren sie aber auch nicht hier. Ich vermutete, dass Vater sich entschieden hatte, wegen der aktuell angespannten politischen Lage, doch etwas Präsenz in der Königsstadt zu zeigen. Da er selbst dennoch ungern Schneewacht verließ, schickte er seine ältesten Söhne. Hinzu kam Arleys Tod, den er mir wohl nicht einfach durch einen Boten oder mittels eines Briefs mitteilen wollte.
Ich musste schwer schlucken, als mir das Bild meines schlafenden kleinen Bruders, wie ich ihn zuletzt in Schneewacht sah, durch den Kopf schoss.
So ungerecht.

„Guten Abend, Mylady."

Ich fuhr erschrocken herum. Der scharfe Klang der Stimme löste irgendeine Assoziation in mir aus, aber im ersten Moment hatte ich kein Gesicht vor Augen.
Als ich dann sah, wer sich aus der Dunkelheit löste, wich mir das Blut aus den Wangen.
Der Gang war an dieser Stelle etwas breiter und führte in einen offenen Nebenraum, mit ein paar Bänken und Bücherregalen. Er musste zwischen den Säulen gestanden haben...

„Mylord...", brachte ich mit rauer Stimme hervor. Er hatte diesen Schreckmoment herbeiführen wollen, sonst hätte er mich nicht erst angesprochen, als ich schon an ihm vorbei war.
Seine brüchigen, weißen Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln, die Hände verschränkte er bedächtig langsam hinter dem Rücken, wodurch seine Brust sich straffte und die Schlangenkopf-Brosche im Licht der Fackeln glitzerte.

„Verzeiht, dass ich Euch so spät noch aufhalte", sprach Moric Kasgarth und neigte leicht den Kopf, seine stahlgrauen Augen blitzten auffällig aus dem sonst so aschfahlen Gesicht. „Vermutlich habt Ihr es eilig in Eure Gemächer zu kommen."
Ja, hätte ich am liebsten geantwortet und wäre schleunigst davongeeilt.
„Wie kann ich Euch helfen", fragte ich stattdessen und zwang mir ein Lächeln auf, was aber wahrscheinlich eher so wirkte, als hätte ich Schmerzen.

Stern des NordensWhere stories live. Discover now