Kapitel 10: Allein

5.8K 404 4
                                    

  "Aber Lord'schen, Ihr wollt Eusch doch nich' schon surücksiehen?", lallte er mit hochrotem Gesicht und mehr hängend als sitzend von seinem Stuhl aus, während Lord Thymeris sich mit hartem Gesichtsausdruck erhoben hatte.
"Es ist für alle Beteiligten besser", knurrte er, eindeutig in einer besseren Verfassung als der Lord von Birkenhain.
"Der Abend hat doch grade erssst begonn'n!", grölte dieser und riss seinen Weinkelch in die Höhe, bedachte aber wohl nicht, dass dieser erst neu befüllt worden war und wurde von einem Schwall roter Flüssigkeit übergossen. Einen Moment saß er unbewegt da, dann fing er an zu zetern und zu brüllen, beschimpfte den jungen Diener, der versuchte ihn mit Tüchern abzutupfen, schubste ihn beiseite und versuchte sich aus dem Stuhl zu erheben, was aber zum einen an seiner Trunkenheit, zum anderen daran scheiterte, dass er unterm Tisch auf einigen Essensresten, die er selbst dorthin befördert hatte, ausglitt und zurück in den Stuhl fiel.
Lord Thymeris kam zügig um den Tisch herum auf uns zu, die Gardisten hinter mir rührten sich ebenfalls. Ich beeilte mich aufzustehen, murmelte den drei Frauen und Rynna eine kurze Entschuldigung zu und wurde dann schon von dem Lord beim Vorbeigehen am Arm gefasst und mitgezogen. Einer der Gardisten blaffte einen Diener an, er solle uns unsere Zimmer zeigen. Dieser hatte zuvor noch fassungslos zu Lord Sanners gestarrt, welcher gerade hilflos von seinem Stuhl unter den Tisch rutschte, dann schaute er die Wache, Lord Thymeris und schließlich mich verwirrt an, als müsste er erst begreifen, was los war. Nach einer weiteren prüden Aufforderung, sammelte er sich und eilte ohne ein weiteres Wort los.
"Es wäre mir lieber, diesen Ort sofort zu verlassen", zischte mir der Lord im Laufen zu, "Aber würden wir jetzt aufbrechen, könnte Sanners das als Beleidigung deuten, und den Gefallen tue ich ihm auf keinen Fall."
Es ging einen gewundenen Gang entlang, in dem nur ein paar wenige Fackeln hingen. Als dieser endete nahmen wir zwei Treppen aufwärts. Ich hatte Mühe mit den großen Schritten der Männer mit zu halten.
"Ist etwas vorgefallen?", fragte ich keuchend, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass mein sonst so gnädiger Verlobter nur wegen der Trunkenheit der Ratte die Geduld verlor.
Lord Thymeris schien erst nach Worten zu suchen. "Es kam zu einigen Äußerungen, die klar gegen den König standen", antwortete er schließlich mit bitterem Ton. "Worte, die aus dem Munde der Rebellion stammen. Birkenhain galt bisher als neutral." Darauf fiel mir keine Antwort ein, aber offen gesagt schockierte es mich kein Stück.
Unsere wilde Hatz endete schließlich in einem breiten Gang, der nun von mehreren Fackeln erhellt war.
"Eure Gemächer, Mylady", piepste der Junge kleinlaut und verbeugte sich flüchtig. "Mylord, Eure Zimmer befinden sich dort um die Ecke, die erste Tür auf der rechten Seite."
"Danke", meinte der Lord knapp und winkte ihn weg. Dann drehte er sich zu mir und sah mich eindringlich an. "Die Gardisten werden die ganze Nacht vor Eurer Tür wachen und ich bin ebenfalls nicht weit weg. Sollte etwas nicht stimmen, scheut Euch nicht Bescheid zu geben."
Ich nickte brav. Er starrte mich noch kurz an, dann seufzte er und ließ meinen Arm los, den er noch immer stramm umfasst hatte. Mit einem Handgriff öffnete er die Tür zu meinen Gastgemächern, warf einen raschen Blick hinein und machte mir dann den Weg frei. "Angenehme Nachtruhe", murmelte er, als ich an ihm vorbei in den Raum schlich.
"Euch ebenso", antwortete ich lächelnd. Er nickte noch einmal und schloss dann die Tür.
Ich hörte noch, wie er etwas zu seinen Wachen sagte, dann erklangen schnelle, sich entfernende Schritte und es wurde still draußen.  

Ich seufzte und sah mich etwas verloren im Raum um. Im Gegensatz zum Flur brannten hier keine Lichter, sodass alles was ich sah nur vom hereinscheinenden Mond erhellt war. Das Zimmer war nicht klein, aber auch nicht sonderlich groß. In der rechten Raumhälfte standen ein großer Schrank, eine Kommode mit Waschschüssel und ein Tisch mit sechs Stühlen. Links befand sich auf einer Anhöhe das große Bett mit zwei Beistelltischen und einem Nachttopf in der Ecke.
Mit einem erneuten Seufzen ließ ich meine Hände sinken, die ich über dem Bauch gekreuzt hatte. Offensichtlich waren meine Sachen nicht hergebracht worden, aber – wie mir jetzt auffiel – keiner der südländischen Bediensteten hatte die Festung betreten, also wie sollten sie dann hierher gelangt sein. Ich näherte mich der Kommode mit der Waschschüssel, hinter welcher an der Wand auch ein Spiegel hing. Ein bisschen erwartete ich, dass er trüb war, was zu meinem Eindruck dieser Burg gepasst hätte, doch mein Spiegelbild blickte mir klar entgegen. Es war schon länger her, dass ich mich im Spiegel betrachtet hatte. Jedenfalls so richtig. Eigentlich nur beim Ankleiden und Haare richten, wobei dass eigentlich immer Roya oder Sarameh übernommen hatten. Auch sie waren uns nicht in die Feste gefolgt.
Als ich mich so betrachtete fiel mir auf, dass ich irgendwie anders aussah. Ich weiß nicht... erwachsener? Meine Haare sahen in dem Licht des Mondes fast weißblond aus, meine Augen schienen seltsam grau und glasig. Irgendwas in meinem Gesicht ließ mich älter wirken. War mein Blick ernster geworden? Meine Züge härter? Nicht mehr so kindlich? Ein klein wenig erinnerte ich mich an meine Mutter, mit der ovalen Gesichtsform und den hohen Wangenknochen. Ich hatte an den Wangen abgenommen, bemerkte ich, sie waren nicht mehr so rundlich.
Ich nahm den Blick von meinem Spiegelbild und begann die Ringe und Armreifen von meinen Händen zu streifen, anschließend legte ich die Kette ab und nahm die Ohrringe heraus. Als ich damit fertig war, zog ich die Spangen und Klammern aus meinem Haar, sodass es mir locker über die Schultern fiel.
Mit einem erneuten kurzen Blick in den Spiegel wandte ich mich ab und ging zum Schrank während ich begann mühselig mein Kleid aufzubinden. Ich wünschte mir eine meiner Zofen herbei, denn das Kleid war am Rücken zugeknotet und ich renkte mir fast die Arme dabei aus. Stell dich nicht so an, sagte ich mir, vor nicht allzu langer Zeit hast du das auch jeden Abend allein geschafft.
Endlich hatte ich die Schleife offen, zog an den Bändern und das Kleid glitt mir raschelnd von den Schultern, blieb aber an meiner Hüfte hängen und auch meine Arme steckten noch in den Ärmeln. Ich streifte es ab und warf es mir über einen Arm, während ich mit der anderen Hand den Schrank öffnete. Keine Motten. Mit ein paar schnellen Handbewegungen verfrachtete ich es auf einen Bügel und schloss die Türen.
Ich fröstelte. Nur im Unterkleid war es hier wirklich kalt. Eilig stieg ich aus den Schuhen, die ich einfach an Ort und Stelle stehen ließ, spritzte mir flüchtig etwas Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht und tapste dann barfuß durch den Raum, die zwei Stufen hoch zum Bett. Mit einem kurzen Kontrollblick, ob sich zwischen den Vorhängen Spinnenweben spannten – du bist so kindisch, Aree– schlüpfte ich unter die Decke. Sie war kalt und steif, aber ich wusste, dass sie sich bald erwärmen würde.
Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, während ich über den Abend nachdachte. Sanners Worte spukten mir noch einmal im Kopf herum.

"Erstaunlich, dass Ragnar sein kleines Töchterlein doch noch rausgerückt hat. Vor fünf Jahren hat er sich stur geweigert sie mir als Weib zu geben."

Brr. Ich schüttelte mich und drehte mich auf die Seite. Dieser Mann war ein ekelerregendes, frauenverachtendes Schwein. Die Vorstellung, dass er mein Gatte wäre... er jetzt hier neben mir liegen würde...
Ich kniff die Augen zu und drehte mich demonstrativ auf die andere Seite. Wäre mein Vater jetzt hier, wäre ich ihm um den Hals gefallen und hätte ihm tausend Mal gedankt, dass er Sanners als meinen Ehemann abgelehnt hatte. Aber... meine Gedanken huschten zu einem anderen Mann. Einem Mann, an den mein Vater mich mit einem strahlenden Lächeln abgegeben hatte. Ich versuchte mir ihn hier vorzustellen, Lord Thymeris. Doch es funktionierte nicht so recht. Ich wusste jetzt, wie Recht Meister Devid und meine Eltern hatten, wie viel Glück ich eigentlich mit ihm hatte, jedenfalls im Vergleich zu Lord Sanners. Dennoch, auch wenn er freundlich und aufmerksam war, gab es doch immer eine gewisse Distanz zwischen uns, die weder er, noch ich so richtig überbrücken konnten...überbrücken wollten?
Ich seufzte und drehte mich wieder auf den Rücken. Wieso konnte nicht einfach mal etwas unkompliziert sein? Vielleicht machte ich es mir auch nur kompliziert.
Schließlich entschied ich, dass ich nun schlafen sollte. Es war ein anstrengender Tag und ein seltsamer Abend und wer wusste schon was morgen kam. Also schloss ich die Augen und versuchte zwei bestimmte Lords aus meinem Kopf zu verdrängen, nicht an meine Zukunft zu denken und auch nicht an Schneewacht.
Ich hatte kaum bemerkt, dass ich nach einer Weile eingedöst war, da schreckte ich urplötzlich auf. Was hatte mich geweckt? Ich vernahm Geräusche auf dem Flur, schnelle flüchtige Schritte. Die Wachen? Nein, die hätten mehr Lärm gemacht in ihren Rüstungen. Aber wer...? Die Schritte kamen näher, waren schließlich direkt vor der Tür...

Stern des NordensWhere stories live. Discover now