Kapitel 11: Carla

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Die Schritte kamen näher, waren schließlich direkt vor der Tür... und liefen vorbei. Dennoch entging mir das erstickte Schluchzen nicht und ein darauffolgendes Schniefen.
Ich lag gebannt da und lauschte, aber als die Schritte verklungen waren, herrschte Stille draußen. Die Wachen schienen nicht auf die Person reagiert zu haben.
Meine Gedanken wanderten zu Lucinda, es hatte nach einer weinenden Frau geklungen. Unruhig huschten meine Augen zur Tür. Sollte ich...? Aber ich kannte sie ja kaum. Und wie konnte ich ihr schon helfen? Gar nicht. Also drehte ich mich auf die Seite und schloss die Augen.
Es dauerte keine fünf Sekunden, da hatte ich die Decke beiseite geschleudert und war auf dem Weg zum Schrank. Ich meinte dort einen Morgenmantel gesehen zu haben. Du bist so unglaublich konsequent in deinen Entscheidungen, Aree, verfluchte ich mich selbst.
Tatsächlich, dort hing einer. Schnell legte ich ihn mir um die Schultern, schlüpfte in meine Schuhe und ging zur Tür. Meine Haare ließ ich offen, die Wachen hatte das nicht zu interessieren und es war ja nur Lucinda. Zumindest, falls ich sie fand.
Zaghaft drückte ich die Klinke runter und spähte hinaus. Die Gardisten hatten sich links und rechts von der Schwelle postiert und schienen mich nicht bemerkt zu haben. Ich zog die Tür weiter auf und räusperte mich. Da drehten sich beide um und starrten etwas verwundert auf mich hinab. Sie waren wahrlich hünenhaft.
„Mylady!", stieß derjenige aus, der von den beiden redete, wenn es sein musste. Braune Augen sahen mich unter dem Helm hervor an. „Stimmt etwas nicht?"
„Doch, ich... äh..." Stottere nicht so herum, herrgott nochmal. „Ich will mir die Beine vertreten", sagte ich dann bestimmter und trat aus dem Raum. Ich wusste nicht, ob sie Verständnis dafür hatten, dass ich eine weinende, vom Schicksal scheinbar verfluchte Frau finden wollte. Aus den Augenwinkeln sah ich wie die beiden sich kurz ansahen, einer die Achsel zuckte und sie sich dann daran machten mir zu folgen.
„Allein", setzte ich hinzu und wandte mich nochmal um.
Der Gardist zog die Augenbrauen hoch. „Mylady, ich fürchte-"
„Ich wünsche es so", unterbrach ich ihn streng und war erstaunt über meinen eigenen Mut. Um eine Widerrede auszuschließen drehte ich mich auf dem Absatz um und lief schnell, aber darauf bedacht nicht fliehend zu wirken den Gang runter. Sie folgten mir tatsächlich nicht und blieben wohl sehr verdutzt vor dem Zimmer stehen. Ich hoffte nur, dass sie nicht zu Lord Thymeris liefen und petzten.
Als der Gang um eine Kurve ging hielt ich erst einmal inne. Wohin wollte ich eigentlich? Ich wusste doch beim besten Willen nicht, wo sie sein könnte. Da ich aber auch nicht umkehren wollte und mir sicher war, dass die Schritte in diese Richtung verschwunden waren ging ich langsam weiter. Die Fackeln an den Wänden wurden weniger und ich befürchtete, dass es bald gar keine mehr gab und ich im stockfinsteren Gang stand.
Doch da vernahm ich ein Geräusch und blieb stehen. Es ertönte erneut, klang wie ein Schluchzen. Es musste aus dem Gang kommen, der etwa zwanzig Meter vor mir nach rechts abbog. Ich setzte mich wieder in Bewegung und kam schließlich in den anderen Flur. Hier gab es tatsächlich keine Fackeln mehr, aber die linke Wand war nur eine Balustrade und führte scheinbar auf einen Innenhof hinaus, wodurch Mondlicht alles erhellte. Ich zog meinen Mantel enger um mich, als mir die kalte Nachtluft entgegen schlug.
Vorsichtig ging ich weiter, dem Schluchzen immer näher, bis ich schließlich eine Gestalt auf der Brüstung sitzen sah, mit dem Rücken an einen Pfeiler gelehnt. Ich schlich noch etwas näher, um die Person identifizieren zu können und...

„Carla!"

  Carla fuhr erschrocken herum und starrte mich erstaunt an, vermutlich ebenso, wie ich sie anstarrte. Als sie registrierte, wer dort vor ihr stand, wischte sie sich eilig die Tränen von den Wangen und ihr Blick wurde unerwartet zornig.
„Was willst du?", fuhr sie mich an.
„Ich...hatte gehört, d-dass jemand weinte und... ich dachte..." Ich wollte nicht stottern, aber ich war so perplex von ihrer Reaktion.
„Hau ab!"
„Carla!" Beschwichtigend hob ich die Hände. „Ich dachte, ich könnte vielleicht helfen. Es muss doch einen Grund haben, dass du-"
„Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten! Also verzieh dich!" Sie sprang von der Mauer und baute sich vor mir auf; sie war wirklich groß, überragte mich fast um einen Kopf.
Ich wich automatisch etwas zurück und sah sie schockiert an. Wieso reagierte sie denn so aggressiv? „Ich will dir doch nichts Böses!"
„Ist mir egal was du willst!" Sie schrie fast.
Meine Gedanken wanderten kurz zurück zu dem Gespräch mit Lucinda, sie hatte mir erzählt, dass Carla in Kürze verheiratet werden sollte. Ich erinnerte mich, wie ich mich gefühlt hatte, als man mir erzählte, dass ich Lord Thymeris heiraten sollte. Ich war entsetzt, traurig, enttäuscht, fassungslos und auch wütend, wütend, dass man mich einfach so an einen fremden Mann geben wollte, dass man mich wegschickte von zu Hause, weit, weit weg. Mein Blick wurde weicher, als ich sie anblickte und einfach nur jemanden sah, der genauso empfand wie ich, wenn auch vielleicht etwas impulsiver.
„Oh, Carla", sagte ich, „ist es wegen der Hochzeit?"
Ihr vor Zorn verzerrtes Gesicht glättete sich mit einem Mal und sie sah mich aus großen Augen an.
Dadurch bestätigt fuhr ich fort. „Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Mir ging es vor ein paar Monaten genauso. Ich konnte es einfachen nicht fassen, dass meine Familie mich einfach so... einfach so weggeben wollte. Es fiel mir wirklich schwer, aber mit der Zeit erkannte ich, dass sie es doch nur gut mit mir meinten, mir nur eine gute Zukunft geben wollten." Ich war etwas erstaunt über meine eigene Zuversicht. „Ich muss zugeben, ich habe mich noch immer nicht ganz damit abgefunden und, oh, was gäbe ich dafür einfach nur wieder nach Hause zu dürfen, doch das... das geht nicht, also muss ich lernen damit umzugehen." Ich lächelte sie vorsichtig an. „Aber ich glaube fest daran, dass ich das schaffen kann, dass es eine Zeit geben wird, in der ich wieder glücklich sein kann. Und ich glaube auch, dass du das kannst."
Als ich zu ende geredet hatte starrte mich Carla mit offenem Mund an und blinzelte einmal perplex. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und brach in schrilles Gelächter aus, während mein Herz einige Stockwerke tiefer rutschte. Unendliche Sekunden lachte sie, weinte fast Tränen, während ich mit hochgezogenen Schultern da stand und mich fragte, was ich Falsches gesagt hatte.
Abrupt brach sie ab und Zorn verzerrte erneut ihre Züge während sie mich an schrie. „Du glaubst, du wüsstest, wie ich mich fühle? Du glaubst, du hättest irgendeine Ahnung? NICHTS WEIßT DU! DU musstest es nicht Nacht für Nacht über dich ergehen lassen, wie dein eigener Vater sich an dir vergriff, sich an dir befriedigte! DU musstest nicht zusehen, wie dein Bauch anfing über seinem Kind zu schwellen! DU musstest nicht mit ansehen, wie man dir dein Baby nach der Geburt entriss, wissend, dass du es nie wieder zu Gesicht bekommen würdest! Wissend, dass es diesen Tag nicht überleben würde! DU MUSSTEST ES NICHT!"
Die Zeit war wie stehen geblieben, als ich sie mit weit aufgerissenen Augen und offen stehendem Mund anstarrte. Sie hatte sich mir in ihrer Rage weiter genähert, mich fast an die Wand gedrängt. Jetzt stand sie keuchend da, Schweiß floss von ihrer Stirn, Tränen liefen ungehindert über ihre Wangen. Und ich spürte, dass mir alles Blut aus den Wangen gewichen war.
Ich wusste selber nicht, was ich sagen wollte, als ich den Mund öffnete, aber unterbrochen wurde.
„Was ist hier los?", polterte eine Männerstimme und eine Gestalt stapfte durch den Gang auf uns zu.
Carla starrte mich noch kurz an, dann wandte sie sich ab und ließ die Schultern fallen. Was sie jetzt wohl dachte? Bereute sie, dass ihr das alles herausgeplatzt war?
Ich wandte mich ebenfalls langsam ab und sah dem Mann entgegen, der uns fast erreicht hatte. Als er aus dem Schatten eines Pfeilers trat, stellte ich fest, dass ich ihn nicht kannte, aber an den Zügen sah ich eindeutig, dass es sich um einen Sohn von Lord Sanners handeln musste.
Grimmig sah er zwischen uns hin und her, während ich ihn anstarrte hatte Carla demütig den Blick gesenkt.
„Sie hat mich bedrängt", sagte Carla leise, wie aus dem nichts.
„Bitte was?", platzte es aus mir heraus.
Der Mann bedachte mich mit einem angewiderten Blick und sah dann fragend zu seiner Schwester. „Inwiefern?"
„Sie wollte mich gegen Vater aufhetzen und hat von irgendwelchen Verschwörungen erzählt", sagte sie unverwandt ohne den Blick zu heben. Ich dagegen starrte sie fassungslos an. Wie konnte sie so dreist lügen? Und dann auch noch so einen Schwachsinn? Das glaubte er ihr doch hoffentlich nicht!
Doch er tat es. Mit herablassendem Blick wandte er sich mir zu. „Du kommst als Gast in unser Haus, isst mit uns, trinkst mit uns und versuchst dann Streit zwischen uns zu säen?" Seine Stimme wurde immer tiefer während er sprach und er kam langsam auf mich zu.
„Nein, das stimmt nicht!", versuchte ich mich zu verteidigen und wich ängstlich zurück. Beunruhigt beobachtete ich, wie er seinen Gürtel öffnete und ihn langsam aus dem Bund zog.
„Dafür sollst du bestraft sein, Weib", knurrte er, nahm seinen Gürtel doppelt und streckte seine Pranke aus, um nach mir zu greifen, während ich zu einem Hilfeschrei ansetzte.  

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