Kapitel 59: Schatten

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Schweigend standen wir nebeneinander auf dem Balkon und starrten in den Schlossgarten hinab, welcher in der Dunkelheit nur an einigen einzelnen Ecken beleuchtet war.
Der Wind war, trotz dessen dass der Mond schon eine Weile am Himmel stand, noch angenehm warm. Ich schloss die Augen und genoss die sanfte Brise in meinem Gesicht. Zum ersten Mal an diesem Tag war mein Kopf frei von beunruhigenden Gedanken. Vielleicht hätte ich doch nicht nur hier herumlungern, sondern lieber raus gehen sollen.

„Aree?"
Rajan hatte sich mit einem Arm seitlich auf die Brüstung gestützt und betrachtete mich. Vielleicht sah er mich schon länger an, aber das hatte ich nicht bemerkt.
„Ich habe noch etwas für dich."
Fragend legte ich den Kopf schief, während er in seine Tasche langte.
Allerdings hielt er inne und schmunzelte leicht.
„Meinst du, du könntest für einen Augenblick die Augen schließen? Bitte?"
Misstrauisch musterte ich sein Gesicht, seine im Fackellicht sanft schimmernden Augen und die Grübchen, die sich jetzt bei seinem Lächeln zeigten. Dann seufzte ich und folgte ergiebig seiner Bitte.

Er wartete kurz einige Sekunden, wahrscheinlich um zu testen, ob ich die Augen auch wirklich geschlossen hielt, dann umrundete er mich langsam, bis er hinter mir stand. Er war so nah, dass ich seinen Atem im Nacken spürte. Fast erwartete ich, dass er meinen Hals küsste, aber dann legte sich etwas kaltes auf meine Brust und über mein Schlüsselbein. Ein Kette?

„Du kannst es dir ansehen", flüsterte er in mein Ohr.
Ich öffnete die Augen und blinzelte in die Fackel, dann sah ich hinab und griff nach dem Anhänger.
Einen Moment stockte mir der Atem. In der Hand hielt ich einen kleinen Turm, besetzt mit flachen, schimmernden Steinen. Es sah aus wie eine Miniaturversion der Wappenbrosche von Schneewacht.

In einem Anfall von Rührung schossen mir Tränen in die Augen. Ich war jetzt Aree Thymeris von Meereshorn. Formal hatte ich daher auch das Wappen von Meereshorn zu tragen. Diese Kette, als Zugehörigkeit zu der Familie Braiden, konnte ich auch tragen, wenn ich die Nixe angesteckt hatte.

„Dein Brautgeschenk", murmelte Rajan und strich mir von hinten eine Strähne hinters Ohr.
Ohne weiter darüber nachzudenken wandte ich mich um, nahm sein Gesicht zwischen die Hände und küsste ihn.
Ich hatte ihn angelogen. Ich war rücksichtslos. Ich hatte ihn verletzt. Und trotzdem war er immer so gut zu mir. Womit hatte ich ihn verdient?

~

Bereits seit geraumer Zeit lauschte ich Rajans ruhigem Atem neben mir. Er schlief tief und fest, während ich schon lange wach war. Eigentlich hatte ich vorgehabt gar nicht zu schlafen, damit ich auch ja nicht das Morgengrauen verpassen konnte, doch irgendwann mitten in der Nacht schreckte ich aus einem unruhigen Traum hoch, ohne mich daran erinnern zu können eingeschlafen zu sein.

Leise seufzend drehte ich den Kopf und starrte zum Fenster.
Ich hatte die Vorhänge am Abend absichtlich einen Spalt offen gelassen, damit ich sehen konnte, wenn der Himmel sich langsam aufhellte.

Mein Entschluss war gefallen. Ich würde lange keine Ruhe mehr finden können, wenn ich dieser Botschaft nicht nachging. Wenn sie tatsächlich von Demian war, musste ich ihn sehen. Auch wenn es nur sein würde, um mit der ganzen Sache endlich abzuschließen. Keine Lügen mehr.

Von einem Geräusch angeregt hob ich den Kopf und lauschte aufmerksam. Begannen die ersten Vögel zu zwitschern?
Ich sah kurz zu Rajan, der aber noch immer ruhig schlief und rutschte dann so leise wie möglich aus dem Bett. Barfuß tapste ich zum Fenster und hörte noch einmal genauer. Das war tatsächlich Gezwitscher. Dann konnte es nicht mehr allzu lang dauern, bis die Sonne aufging.

Augenblicklich begann mein Herz zu rasen. Es war soweit.

Ich ging zum Kleiderschrank und suchte mir das einfachste Kleid heraus, das ich finden konnte. Erschreckender Weise musste ich feststellen, dass ich nur noch wenige besaß, die ich ganz allein schnüren konnte.
Auf Schmuck verzichtete ich ganz und auch die Haare band ich mir nur relativ lasch und unkompliziert hoch. Demian sollte nicht auf falsche Gedanken kommen.

Stern des NordensWhere stories live. Discover now