Kapitel 44: Frühsommer

5.5K 385 25
                                    

Zu Anfang war es noch relativ interessant gewesen den Stimmen der diskutierenden Männer dort unten zu lauschen, aber mittlerweile hörte ich nur noch mit einem Ohr zu. Eher beobachtete ich Rajan, wie er da saß, ein klein wenig in seinem Stuhl hinabgerutscht und wie immer an seinem Becher drehend. Er selber schien kaum bei der Sache zu sein, denn schon seit einer Weile hatte er aufgehört ab und zu aufzusehen und wenigstens so zu tun, als würde es ihn interessieren, wie viele Schulden wo eingetrieben wurden und welche kleinen Lords sich wo über ein Stückchen Ackerland stritten, stattdessen hing sein Blick gedankenverloren auf der Tischplatte.
Durch die Fensterfront hinter ihm schien in warmen Gelb- und Orangetönen die Nachmittagssonne herein und schuf in dem kleinen Saal eine recht wohlige Atmosphäre, jedenfalls wenn man die wild debattierenden Stimmen ausblendete.
Wir saßen hoch oben auf der steinernen Empore, die sich auf der anderen Seite des Raumes erstreckte und von der aus man freie Sicht auf den langen Tisch und die ganzen wichtigen Leute dort unten hatte. Rajan meinte, dass wir uns nicht mehr sehen würden, aber mich davon abhalten, mir die Sitzung anzusehen, konnte er nicht.
Der Mann neben meinem Verlobten kam mir bekannt vor. Ich meine am Abend zu Odricks Geburtstag stand er ebenfalls in unserer kleinen Runde. Im Laufe der Ratssitzungen glaubte ich herausgefunden zu haben, dass es sich bei dem Mann um den Lord Schatzmeister von Goldstern handelte.

Grade als ich von dem älteren Mann wegsah, schaute Rajan hoch und unsere Blick kreuzten sich. Er guckte kurz überrascht, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und er richtete sich unauffällig wieder im Stuhl auf. Unmittelbar musste ich schmunzeln und aus seinem Lächeln wurde ein Grinsen.
„Es ist schön zu sehen, wie gut Ihr Euch mit Lord Thymeris versteht", flüsterte Roya in mein Ohr. Sie saß neben mir und fädelte kleine Holzperlen, die sie aus einem Säckchen in ihrem Schoß fischte, auf ein Band auf.

Verlegen suchte ich nach einer passenden Antwort, doch sie schien gar nicht auf eine zu warten, denn sie lächelte nur zufrieden in sich hinein. Ich musterte sie ein paar Sekunden von der Seite, wie das Sonnenlicht ihrer dunklen Haut einen ganz weichen Ton verlieh und wie sie ihren sanften Blick auf die Bänder in ihren Fingern gerichtet hatte. Das krause Haar war etwas länger geworden über die Wochen und umrahmte nun schon ihr Gesicht. Sie war mir vertraut geworden, stellte ich mit einem warmen Gefühl ums Herz fest, wie eine Freundin. Am Anfang hätte ich das nie gedacht. Aber zugegeben, am Anfang wurde sie irgendwie von Saramehs aufdringlicher Art in den Schatten gestellt.
Wo Sarameh wohl war? Seit ich Rajan zu Rede gestellt hatte, hatte ich sie nicht mehr gesehen. Von dem Moment an war es, als wäre sie eigentlich nie da gewesen. Nachdenklich sah ich wieder in den Raum hinab. Vielleicht sollte ich Rajan einmal darauf ansprechen. Aber wollte ich es wirklich wissen? Eigentlich war es doch genau das, was ich verlangt hatte. Sie sollte verschwinden und das war sie.

„Hallo."
Ich erschrak, als die Stimme unerwartet ganz nah an meinem Ohr erklang.
Er lachte. „Verzeiht, Mylady, ich wollte Euch nicht erschrecken." Grinsend ließ er sich neben mir auf die Bank fallen und betrachtete mein Gesicht. „Na gut, vielleicht schon. Aber ein Herzstillstand war doch nicht das, was ich bezwecken wollte."
„Hallo Demian", murmelte ich und versuchte meinen Schock, so gut es jetzt noch ging zu verbergen.

Seine grau-grünen Augen funkelten amüsiert und er stützte sich entspannt mit den Ellenbogen auf der Rückenlehne ab. „Ich wusste gar nicht, dass Ihr Euch für Politik interessiert", meinte er und warf einen knappen Blick auf die Männer dort unten.
Ich sah ebenfalls hinab und stellte irgendwie erleichtert fest, dass Rajan nun aufmerksam zuhörte und meinen Besuch wohl noch nicht bemerkt hatte.
„Meine Politikkenntnisse lassen zu wünschen übrig", antwortete ich und tat so, als würde ich dem Gespräch dort unten folgen. „Etwas Nachhilfe schadet wohl nicht."
Er runzelte skeptisch die Stirn. „Sie sprechen hier aber nur über Goldsterns regionale Probleme. Landespolitik findet in viel größerem Rahmen statt. Und vor allem auch mit mehr Interessenten." Demonstrativ drehte er sich einmal um und ließ den Blick schweifen. Hinter uns saßen nur noch zwei Personen. Ein Mann in einer schwarzen Robe, vermutlich ein Gelehrter oder Bibliothekar, der tatsächlich aufzupassen schien und in der hintersten Reihe in der Ecke ein Mann, der sich zusammengekugelt hatte und offenkundig schlief.

Stern des NordensWhere stories live. Discover now