Kapitel 35: Kristan Thymeris

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Ich sog erschrocken die Luft ein. Seinen Bruder? Mit großen Augen sah ich zwischen den beiden hin und her.
Mein Verlobter hatte seinen Blick starr auf den Boden gerichtet, die Arme fest vor der Brust verschränkt. Zu gern wüsste ich, was das mit seinem Bruder auf sich hatte. Doch noch lieber wüsste ich, was jetzt in seinen Gedanken vor sich ging, denn ich hatte das Gefühl, dass mir das häufig vorenthalten blieb.
Langsam hob er den Kopf, sah zu Odrick, der seine Worte offensichtlich zu bereuen schien, und dann zu mir.
Möglichst ausdruckslos versuchte ich seinem Blick stand zu halten. Als ich grade kurz davor stand zu scheitern, seufzte er und löste sich damit aus seiner Starre.
„Gehst du ein Stück mit mir?", fragte er leise und streckte mir einladend die Hand entgegen.

~

Mit einem tiefen Atemzug sog ich die salzige Meeresbrise in mir auf. Zuerst hatte ich noch versucht, meine Haare gegen den Wind zu bändigen, doch mittlerweile hatte ich das aufgegeben, sodass mir die blonden Strähnen kreuz und quer durchs Gesicht gepeitscht wurden.
Irgendwie löste der Blick auf das dunkelblaue Meer, das sanft in der tiefer sinkenden Sonne glitzerte, eine Kindheitserinnerung aus. Ich war auch als kleines Mädchen schon einmal hier gewesen, ich meine sogar eventuell zu Odricks Hochzeit, aber eigentlich konnte ich mich daran nicht mehr erinnern. Jetzt aber erschien es mir, als hätte ich schon einmal auf dieser Mauer gestanden und über den riesigen Hafen von Goldstern auf den gewaltigen Ozean geschaut.
Ich sah zu Rajan, der sich neben mir auf die steinerne Balustrade gelehnt hatte und ebenso wie ich gerade übers Wasser schaute.
Sein dunkles, gelocktes Haar hing ihm zerzaust in der Stirn, vermutlich war es aber auch schon durch das viele Schwitzen unter dem Helm nicht sonderlich geordnet gewesen. Der Blick seiner braunen Augen hing nachdenklich am Horizont, er hatte leicht die Brauen zusammengezogen. Wie ich ihn so betrachtete, kam mir in den Sinn, wie ich wenige Wochen zuvor noch über ihn gedacht hatte. Er war mir sehr fremd, schien immer ernst und ließ nur selten eine Regung unter seiner Maske aus Bedachtheit und Gefühlskälte hervorblitzen. Vielleicht war er freundlich, aber ich konnte mich noch sehr gut an dieses steife Lächeln erinnern, welches nicht einmal seine Augen erreicht hatte.
Jetzt kannte ich dieses Glitzern in seinen Augen, das mich so sehr an seinen Vetter erinnerte. Ich kannte die Grübchen in seinen Wangen und den sanften Gesichtsausdruck, wenn er mich ansah.
Was genau war eigentlich geschehen, dass sich unser Verhältnis dermaßen geändert hatte? War es die beklemmende Situation in Birkenhain gewesen, in der er ohne jegliche Zweifel zu mir gehalten hatte? Diese kleinen Aufmerksamkeiten, die er immer mal wieder durchklingen ließ, wie zum Beispiel als er mir ohne ein Wort Traubensaft anstelle von Wein untergemogelt hatte? Dass er meine Abneigung gegenüber Wein überhaupt bemerkt hatte? Oder war es tatsächlich erst, seitdem ich beschlossen hatte auf ihn zu zu gehen, trotz der Konflikte mit Sarameh. Genau konnte ich es nicht mehr sagen, aber was ich wusste war, dass wir uns definitiv irgendwie auf einer Ebene getroffen hatten, auf der wir miteinander leben konnten. Und mit dieser Gewissheit, kam ich gut mit der Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft zurecht.
„Teilst du mir den Gedanken mit, der dich so zum Lächeln bringt?"
„Hm?" Irritiert sah ich zu Rajan, der den Kopf gewandt hatte und mich nun leicht schmunzelnd musterte. Dann seufzte ich, wandte mich um und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Mauer. „Ich glaube du bist es, der mir etwas mitteilen sollte."
„Ja?"Er kratzte sich ahnungslos am Kinn, doch in seinen Augen konnte ich genau erkennen, dass er wusste was ich meinte. Unter meinem unbeeindruckten Blick seufzte auch er, stieß sich von der Brüstung ab und richtete sich auf, während er wieder nachdenklich über das tiefblaue Wasser schaute.

„Ich hatte einen kleinen Bruder. Sein Name war Kristan. Ja, er wurde nach Odricks Vater benannt", fügte er mit einem leichten Lächeln hinzu und nahm damit meine Frage vorweg. „Er wurde geboren, kurz bevor ich sieben Jahre alt wurde. Kristan war... ein echter Wirbelwind. Ich habe nie jemanden kennen gelernt, der sein Leben aus so vollen Zügen genoss, wie er. Seine ungestüme Art brachte ihm andauernd jede Menge Ärger ein, vielleicht kostete sie ihn am Ende auch... sein Leben." Einen Moment schwieg er, starrte nur in die dunklen Wellen. Der Wind zauste in seinen Locken und blies sie ihm ins Gesicht, er schien es jedoch gar nicht richtig wahrzunehmen. „Ich glaube wir waren fast wie Tag und Nacht. Während ich drinnen saß und lernte, spielte er draußen mit den Hunden oder verschreckte die Legehennen. Während ich alles daran legte den Vorstellungen meiner Familie und meines Vaters gerecht zu werden, stellte er alles in Frage, was er selber als falsch oder ungerecht empfand. Er war es, der mich lehrte auch meinem Herzen zu folgen, anstatt immer nur an Regeln und Normen festzuhalten. Mein Vater erzählte mir nach seinem Tod, dass er immer versucht hatte mir nachzufolgen und ja, ich hatte bemerkt, dass er mir in vielen Dingen nacheiferte. Doch eigentlich war es doch... vielmehr er, an dem man sich ein Beispiel nehmen sollte. Es verging kein Tag, an dem man ihn nicht Lachen sah, kein Tag ohne dieses helle Glitzern in seinen Augen." Obwohl ich einen dicken Knoten im Hals hatte, verzogen sich meine Lippen in dem Moment zu einem leichten Lächeln. Das Glitzern, dass er beschrieb, kannte ich nur zu gut. „Vor fünf Jahren. Zu Odricks Geburtstag wurde wie gewöhnlich ein Turnier veranstaltet. Kristan ging mir schon Wochen vorher auf die Nerven. Den ganzen Tag hüpfte er vor meinen Füßen herum und bat mich, ihn mitzunehmen. Eigentlich war er erst fünfzehn, doch sein sechzehnter Geburtstag war nicht mehr allzu fern, außerdem gab es bei unserem Namen keinerlei Probleme bezüglich der Anmeldung." Ein bitterer Zug umfuhr seinen Mund. „Also ging ich zu Vater und bat ihn, Kristan mitnehmen zu dürfen. Es war nicht einfach, doch mit vielen Versprechungen und Kompromissen konnte ich ihn letztendlich umstimmen. Ich glaube ich sah meinen Bruder nie so glücklich wie an diesem Tag. Seit er das erste Mal bei einem Turnier zugesehen hatte, träumte er davon selber eines zu bestreiten und in seiner ungestümen Art wollte er natürlich nicht noch ein Jahr warten, bis es eigentlich legal war. Ich hatte ihn selbst trainiert, sowohl im reellen, als auch im Turnierkampf, daher wusste ich, wie gut er war, also machte ich mir kaum Gedanken. Tatsächlich gelang es ihm einige erfahrene Ritter aus dem Sattel zu heben, bevor er gegen einen Kämpfer antrat, der beinahe genauso jung war, wie er. Ich weiß noch, wie er mir mit glitzernden Augen zuzwinkerte, bevor er aufs Pferd stieg. Damals hatte ich noch lachend den Kopf geschüttelt über seinen Leichtsinn, heute weiß ich, ich hätte ihn für diese Dummheit aus dem Turnier nehmen sollen. Er wurde geblendet. Irgendwo hatte die Sonne sich plötzlich gespiegelt und ihm die Sicht genommen. Da er zu unbedacht war, verlor er sofort die Konzentration und die nötige Spannung, um die Haltung zu bewahren. Die Lanze des anderen traf ihn am Kinn und riss ihn aus dem Sattel. Sein Fuß verfing sich im Steigbügel, er wurde mit dem galoppierenden Pferd mitgerissen und gegen die Planken in der Mitte geschleudert. Ich weiß nicht, ob es der Lanzenstoß oder der Zusammenprall mit der Abtrennung war, doch Meister Aureus stellte später fest, dass er einen Genickbruch erlitten hatte." Rajan hatte seinen Blick mittlerweile starr auf den Stein vor sich gerichtet, die Hände fest um die Kante geklammert. „Es war schnell zu Ende. Ich weiß nicht mehr, ob das ein Trost war. Schmerzen hatte er wahrscheinlich keine. Die hinterließ er nur."

Irgendetwas verschnürte mir den Hals, hinderte mich fast am Atmen. Dafür, dass er mir all das bewundernswert gefasst erzählt hatte, lag in seinem letzten Satz eine unglaubliche Emotion, die mir einen Schauer über den Rücken jagte und mir die Tränen in die Augen trieb. Ich weiß nicht, ob er mir gegenüber einmal so ein Gefühl offenbart hatte, wie in diesem Augenblick. Er sah mich nicht an, aber die Trauer, die in dem Moment von ihm ausging war beinahe greifbar.
Was sollte ich sagen? Noch nie hatte ich einen geliebten Menschen verloren. Ich hatte immer wohlbehütet in der Feste gelebt, fernab von wahren Schmerzen und Tragödien. Ich konnte Rajan nicht sagen, dass ich wusste wie er sich fühlte, denn das wusste ich tatsächlich nicht. Sollte ich ihm mein Mitleid aussprechen? Doch auch das hatte er bestimmt oft gehört. Alles was mir blieb, war ihm zu zeigen, dass ich da war und versuchte seine Trauer zu verstehen. Ich hatte selbst Brüder, die ich über alle Maßen liebte. Allein die Vorstellung, einen von ihnen zu verlieren...
Vorsichtig trat ich näher an ihn heran und legte ihm zaghaft eine Hand an die Schulter. Erst rührte er sich nicht, schien noch tief in den Erinnerungen versunken zu sein, doch dann lösten sich seine Finger vom dem harten Felsen, glitten herauf und umfassten meine. Ich war schon erleichtert, dass er überhaupt reagierte, als er in einer einzigen schnellen Bewegung plötzlich herumfuhr und mich an sich zog. Seine Armen lagen fest um meine Hüfte, seine Stirn lehnte er sanft gegen meine.

„Jeremín wurde geblendet. Es war nur eine Sekunde in der er gestrauchelt hat, doch ich hätte ihn noch in dieser Sekunde getroffen." Er schloss die Augen und zog die Brauen zusammen. „Nie wieder. Nie, nie wieder will ich einem Vater ins Gesicht blicken, während ich ihm sagen muss, dass sein Kind durch meine Schuld ums Leben gekommen ist."
„Nein, Rajan." Ich legte ihm die Hand an die Wange und sah ihn, so gut es auf die geringe Entfernung eben ging, bestimmt an. „Der Tod deines Bruders ist traurig und so unfassbar ungerecht, aber in keiner Hinsicht deine Schuld. Ich kann irgendwo deinen Standpunkt verstehen, dass du glaubst, es wäre alles anders gekommen, wenn du deinen Vater damals nicht überzeugt hättest. Glaubt ihr im Süden an Schicksal? Wir im Norden tun es und ich denke, dass sich dein Bruder, auch durch das Verbot eures Vaters, wohl kaum hätte abhalten lassen dir zu folgen. Insbesondere nicht im Hinblick auf den Charakter deines Bruders, den du beschrieben hast. Ich weiß es klingt hart, aber ich denke... ich denke, dass Kristans Tod, auch wenn du dich damals anders entschieden hättest, nicht zu vermeiden gewesen war. Und Jeremìn... jeder andere Ritter hätte zugestoßen. Jeder hätte diesen Zug durchgeführt, der ihn unvermittelt ins Finale gebracht hätte. Dass du in dem Moment, in dem du ihn Straucheln sahst, das vor Auge hattest, was ihm hätte passieren können – ich finde, das ehrt dich. Doch niemand hätte dir etwas vorwerfen können, wenn du deine vorteilhafte Position ausgenutzt hättest. Auch wenn etwas passiert wäre. Bitte, Rajan. Bitte, bitte hör auf, dir die Schuld am Tod deines Bruders zu geben. Du vermauerst dir dein Herz und verbaust die Chance endlich damit abzuschließen."

Jetzt hatte ich durch meine eigenen Worte einen dicken Knoten im Hals. Eigentlich wollte ich nicht über seine Gefühle urteilen, da ich selber noch nie die Erfahrung gemacht hatte. Doch ich wusste, dass es nicht gut war, die Trauer in sich hineinzufressen und sich immer wieder Vorwürfe zu machen. Es konnte nicht gut sein.
Rajan hatte die Stirn von meiner genommen und musterte eine ganze Weile lang aufmerksam mein Gesicht. Ich wusste nicht, ob ich ihn mit meinen Worten verärgert oder gar verletzt hatte.
„Ich danke dir dafür, dass du so aufrichtig bist, Aree."
Ich sah nur noch das weiche Braun in seinen Augen, bevor er sich vorbeugte und sanft seine Lippen auf meine legte.

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Hallo ihr Lieben,
ich bin ja eigentlich nicht so der Typ, der immer unter seine Kapitel schreibt und es ist jetzt schon das dritte Mal in kürzester Zeit, ABER: Letzte Woche hat mich @SaphiraKira angeschrieben und mir das oben angefügte Cover geschickt, das sie für 'Stern des Nordens' gestaltet hat. Ich habe mich so gefreut, dass ich es hier unbedingt erwähnen wollte ^-^

Macht euch noch einen schönen Tag!
Lacrima



Stern des NordensWhere stories live. Discover now