Kapitel 39: Der Prozess

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„Ich gewährte ihr Einlass. Ich gewährte ihr ein Zimmer und ein üppiges Mahl. Ich gewährte ihr Zugang zu meiner Familie! Und was tat sie?!" Er blieb abrupt stehen, riss den Arm hoch und deutete mit dem dreckigen, ungepflegten Finger unmittelbar auf mich, was mir einen weiteren kalten Schauer über den Körper jagte. „Sie versuchte meine Tochter in einen Komplott zu verwickeln! Ihre weibliche Naivität auszunutzen und sie gegen ihr eigenes Blut aufzuhetzen!" Willard Sanners senkte den Finger und wandte sich wieder den schweigenden Zuschauern zu. „Das ist Verrat!" Sein Rücken war mir zugewandt, doch ich konnte mir nur allzu gut ausmalen, wie seine kleinen Rattenaugen über die einzelnen Gesichter huschten. „Ihre Taten verletzen meine Ehre und verspotten den Namen Sanners. Ich verlange, dass sie gemäß der herrschenden Gesetze bestraft wird!" Er drehte sich wieder zu mir und seine schlammigen Augen brannten sich in meine. „Diese Frau ist eine bösartige Hexe, die versucht Zwietracht zwischen uns zu säen."

„Schwachsinn." Rajan stand mit verschränkten Armen neben mir, seine Stimme klang erstaunlich ruhig.
Sanners Blick huschte zu ihm und schien hasserfüllte Blitze zu sprühen, bevor er ein hämisches Grinsen aufsetzte und die Arme ausbreitete. „Lord Thymeris! Ihr wollt etwas dazu sagen?"
„Ja", brummte Rajan, unbeeindruckt von seinem Spott. „Dass das Schwachsinn ist."
„Achja?!"
„Ja. Was Ihr hier bezweckt, ist nichts weiter als Aufmerksamkeit auf Euch zu ziehen, die Ihr aufgrund Eurer unzureichenden Qualitäten als Hoher Lord zunehmend verliert."
Einen Augenblick entglitten Lord Sanners die Züge, bevor sein Gesicht wieder zu der höhnischen Maske wechselte. „Es ist nicht verwunderlich, dass Ihr sie in Schutz nehmt. Schließlich hat sie Euch vermutlich am meisten unter Kontrolle."
Dieser Mann redete wirklich von mir, als sei ich irgendein übernatürliches, teuflisches Wesen, das in die Köpfe der Menschen seiner Umgebung eindrang und ihren Willen kontrollierte. Dabei hatte ich nicht im Geringsten vor überhaupt irgendjemanden zu kontrollieren. Ich wusste nicht einmal genau, was hier vor sich ging.
Rajan schnaubte. „Ihr redet wirres Zeug."

„Das finde ich auch", dröhnte Odricks Stimme von oben und lenkte damit alle Blicke auf sich. Er hatte das Gewicht leicht verlagert und das Kinn auf der Hand abgestützt. „Wieso klärt Ihr uns nicht endlich auf, was denn tatsächlich vorgefallen sein soll. Ich höre nur Verrat und Hetzerei, doch niemand erzählt worauf das begründet. Wo ist denn Eure Tochter, Lord Sanners? Sie soll ihre Geschichte erzählen."
Sanners grinste selbstsicher. „Carla!" Er fuchtelte energisch mit der Hand in Richtung seiner Begleiter. „Komm her!"
Die dünne, hohe Gestalt von Carla schob sich langsam zwischen den anderen hindurch. Ich musste tief durchatmen, als das Licht auf ihr blasses Gesicht fiel. Unweigerlich dachte ich zurück an die Nacht, ihren Ausbruch, in dem sie mir die Grausamkeiten ihres Vaters an den Kopf geworfen hatte.
Ihre Augen zuckten nervös durch den Raum, während sie zögerlich auf den Lord zu schlurfte, der sie mit ausgestrecktem Arm erwartete. Er packte sie grob am Ellenbogen und riss sie herum, bis sie direkt Odrick zugewandt war. Seine Hand krallte sich dabei weiterhin in ihre Schulter.
„Erzähl es ihnen, Liebes", säuselte er ihr ins Ohr und mir wurde beinahe schlecht. Ich sah wie sie sich versteifte und ihr Brustkorb sich schneller hob und senkte.

„Es war schon später in der Nacht", begann sie leise, mit rauer Stimme. Ihr Blick schwirrte noch immer ziellos durch den Saal und mied nach wie vor meinen. „Die... Gäste hatten sich schon eine Weile lang zurück gezogen, als auch ich meine Räumlichkeiten aufsuchte. Nur kurze Zeit später klopfte es an meiner Tür. Ich war skeptisch, wer mich zu solch später Stunde noch besuchen kam, öffnete aber dennoch. Es war sie."
Ich schnappte nach Luft. Das war gelogen!
„Ich-", setzte ich an, aber augenblicklich umfassten Rajans Finger mein Handgelenk.
„Sssh. Du musst sie ausreden lassen, so schwer es dir fällt", flüsterte er mir zu und ich biss mir auf die Lippe.
„Sie wollte, dass ich sie herein lasse, doch ich verweigerte ihr den Zutritt."
„Gut, dass du ihre bösen Absichten geahnt hast", kommentierte Sanners und schmunzelte hart in meine Richtung. „Wer weiß, was sonst noch geschehen wäre."
„Also bat sie mich, auf dem Flur mit ihr zu reden", fuhr Carla unbeirrt fort. „Erst wusste ich gar nicht wovon sie plötzlich sprach, aber dann begriff ich, dass es sich um eine Verschwörung handelte." Sie atmete leise zischend aus, als sei sie froh, das endlich los geworden zu sein. Sanners grinste siegessicher.

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