Kapitel 56: Selbstlos

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Die zarten Sonnenstrahlen des jungen Morgens fielen durch die dünnen Vorhänge und tauchten den Raum in ein wohliges, warmes Licht. Die vielen Menschen, die um mich herum wuselten, warfen immer wieder Schatten in den Spiegel, in dem ich mich betrachtete, aber da ich auf dem kleinen Podest stand und somit höher als alle anderen war, blieb mein Gesicht stets unverdeckt.
Sie hatten mir das Haar zurückgesteckt, doch in dem leichten Windhauch, der durch die geöffneten Fensterläden hereinströmte, wogen einige einzelne Härchen noch immer im hellen Sonnenlicht.

Ich hatte kaum geschlafen in der Nacht und wenn ich es doch tat, träumte ich von meiner Familie in Schneewacht. Arley auf meinem Arm, Vater, wie er mir die Hand auf die Schulter legte und immer wiederholte, wie stolz er auf mich war, Mutter lächelnd hinter ihm.
Doch was ich dort sah war verdrehte Fantasie. Arley war tot, Mutter versank in Depression und Vater wurde zerfressen von Sorgen über die Familie und das Königreich.

Vorgestern hatte ich das Gefühl von Freiheit, die Illusion, ich hätte wirklich eine Wahl. Einfach betrachtet hätte ich die vielleicht. Aber wenn ich nur eine Sekunde darüber nachdachte, wurde mir alles bewusst was dagegen sprach.

Ich hatte es in letzter Zeit oft bedauert, als Aree Braiden  geboren worden zu sein. Häufig hatte ich mir gewünscht ein einfaches Mädchen zu sein, ohne besondere Pflichten, ohne besonderen Status.

Aber in meinem Gespräch mit Rajan war mir etwas bewusst geworden, was ich so noch nie bedacht hatte.
Vielleicht gab es einen Grund, warum ich es war. Vielleicht hat es alles einen Sinn. Vielleicht war aber auch ich es, weil andere zu schwach gewesen wären? Sich jetzt anders entschieden hätten?

Der tatsächliche Grund würde mir für immer ein Geheimnis bleiben, doch ich nahm mir vor, mir dies immer vor Augen zu halten. Mir war es nicht bestimmt, frei zu sein, über mich selbst zu entscheiden und zu gehen, wohin auch immer ich wollte. Mir war es bestimmt höherem Zweck zu dienen und das war der Frieden. Zwar spielte ich nur eine winzige Rolle in diesem großen Komplex von Voraussetzungen und Bedingungen, aber große Dinge bauen eben auf den kleinsten auf.

Ich wollte eines dieser kleinste Dinge sein. Ich wollte selbstlos sein.

„Wie eine Königin", wisperte eine bekannte Stimme neben mir.

Es fiel mir nicht leicht, mich aus meiner Starre und von meinen eigenen Augen im Spiegel zu lösen, doch nach ein paar Sekunden drehte ich langsam den Kopf.
Arlisar stand neben dem Podest und sah lächelnd zu mir auf.

Seine Haare waren straffer zurückgebunden als sonst, sein freies Gesicht erinnerte mich noch stärker an Vater. Hinter ihm stand Arjon, dem die hellen Haare wie immer glatt auf die Schultern fielen. Aus seinen eisblauen Augen betrachtete er mich ausdruckslos.
Sie beide waren in die edelsten Gewänder gekleidet, graue Hemden mit silber bestickt, schwarze Hosen, sowie teure lederne Mäntel und Stiefel. Auf der Brust trugen sie jeweils die glänzende Brosche in Form des mächtigen Turmes von Schneewacht.

„Königin werde ich heute nicht", antwortete ich. Mein Hals war so trocken, dass ich erst einmal Schlucken musste, bevor ich die Worte hervorbrachte.
Arlisar lachte und kam ein paar Schritte näher, bis er vor mir stand.
„Unsere Königin wirst du immer sein, Liebes." Er legte lächelnd den Kopf schief. „Aber eines fehlt dir noch."

Er griff in seinen Mantel und zog etwas Glitzerndes hervor. Eine weitere Brosche der Familie Braiden.
Ich musste einmal schwer Schlucken, als Arlisar sie vorsichtig an mein Kleid steckte. Die Brosche hatte ich zuhause immer nur zu besonderen Anlässen getragen. Als unverheiratete Frau trug ich sie nicht dauerhaft, wie meine Mutter.
In der Zeremonie später würde Rajan sie abnehmen und mir stattdessen das Wappen von Meereshorn anstecken. Dieses würde ich von da an jeden Tag tragen.

Stern des NordensWhere stories live. Discover now