Kapitel 54: Das Werk des Wahnsinns

4K 358 31
                                    

Mit klopfendem Herzen kam ich vor der dunklen, eisenbeschlagenen Tür an. Die zwei Gardisten warfen sich kurz vielsagende Blick zu, dann wandte sich einer um und machte Anstalten zu klopfen.
„Schon gut!", rief ich, quetschte mich an ihm vorbei, drückte die Klinke runter und platzte in den Raum. Eigentlich kein Verhalten, das sich für eine Lady ziemte, aber ich wollte verhindern, dass Rajan vielleicht den Eintritt verweigerte.
Ich war auf einen irritierten, eventuell überraschten Gesichtsausdruck vorbereitet, musste aber feststellen, dass ich überhaupt gar nicht bemerkt worden war.

Rajan saß am Tisch und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Am Fenster, mit dem Rücken zu mir, stand Odrick, die Arme offensichtlich vor der Brust verschränkt.
„Und du glaubst, das reicht mir?", brummte der König gerade.
„Seit er den Essenssaal verlassen hat, hat ihn niemand mehr gesehen, Rick!", fauchte mein Verlobter gereizt. „Und die Gardisten, die zu dem Zeitpunkt bei ihm waren, sind spurlos verschwunden. Ich habe keinerlei Anhaltspunkte. Bis auf den Bediensteten, der ihn im Morgengrauen fand, ist niemand bekannt der sich in dem Trakt aufhielt. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Mir eine Geschichte ausdenken?!"

„Es ist mir egal, was du tust!", donnerte der König mit einem Ton in der Stimme, der mir einen kalten Schauer quer über den Körper jagte. „Hauptsache du bringst mir einen Täter!" Er wandte sich vom Fenster ab. „Wie sieht es denn aus, wenn ich mir in meinen eigenen Mauern die Rebellen auf der Nase herumtanzen lasse?! Was reden die Leute, wenn ich es nicht schaffe einen einfachen Mord aufzuklären?! Alle warten auf eine Antwort! Und es scheitert nur an deiner Inkompetenz, Vetter!"

Rajan ballte die Hände zu Fäusten, man sah deutlich wie seine Kiefermuskulatur arbeitete.
„Dann sag mir doch bitte, wie ich die Spur eines Toten verfolgen soll, wenn niemand ihn gesehen hat und die wichtigsten Zeugen verschwunden sind." Seine Stimme klang etwas gepresst, aber ansonsten bemerkenswert ruhig. „Rynon selbst fragen gestaltet sich als etwas schwierig."

Der König kam mit langsamen Schritten zum Tisch, stützte sich mit beiden Fäusten auf der Platte ab und sah Rajan direkt in die Augen. „Vielleicht, mein Lieber, wäre es an der Zeit deine Methoden zu ändern."
„Und was schlägst du vor, Vetter?" Erneut bahnte sich ein kalter Schauer den Weg über meinen Rücken. Meiner Einschätzung nach bewegte sich mein Verlobter gerade auf ziemlich dünnem Eis.
„Du weißt genau, wovon ich rede. Sei nicht so verweichlicht."

„Und wen?" Rajan lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du beschäftigst hier allein mehrere Hundertschaften von Bediensteten, die Zahlen der Besucher sind mir nicht geläufig."
„Mir schweben da ein paar Namen vor. Die sind dir ganz bestimmt geläufig."

Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Ich erinnerte mich wieder daran, was Demian mir über das Verhältnis der Kasgarths zur Krone erzählt hatte. Sie standen bestimmt nicht gerade ganz unten auf Odricks Liste...

„Und dann? Soll ich sie einzeln foltern, bis sie mir vielleicht sagen, was du hören willst? Und wenn sie es nicht tun, alle umbringen, wie Sanners' Tochter?"
Ich wollte mir schockiert die Hand vor den Mund schlagen, doch irgendetwas sagte mir, dass es besser war mich kein Stück zubewegen.

Carla war tot?!

Mein Herz krampfte sich ein Stück weit zusammen. Als ich gescheitert war, sie nicht überzeugen konnte mit mir zu reden, da wusste ich, dass man es auf andere Art und Weise versuchen würde, sie zum Sprechen zu bewegen. Aber wieso hat mir niemand gesagt, dass sie tot war? Wieso hat Rajan mir das nicht gesagt?

„Das Mädchen war ein Versehen, das weißt du", brummte Odrick und richtete sich auf.
Rajan knurrte etwas unverständliches, dann schwiegen sie beide.

In der Stille befürchtete ich, dass sie mein Herz hören könnten, so laut schlug es. Ein ungutes Gefühl sagte mir, dass ich das Ganze hier überhaupt nicht hätte hören sollen. Ich hätte wirklich klopfen sollen. Aber zurück konnte ich nicht mehr, ohne dass sie mich bemerken würden. Es war schon erstaunlich, dass sie mich beim Eintreten nicht gehört hatten, denn ich war nicht gerade leise gewesen. Doch da der König gesprochen hatte, waren meine Geräusche vielleicht in dem Klang seiner tiefen Stimme untergegangen.

„Hör zu, Rick", begann Rajan wieder, stand auf und stützte sich genauso wie sein Vetter auf dem Tisch ab. „Ich werde sehen, was ich noch tun kann, aber primär ist es mir jetzt erst am wichtigsten Aree zu finden und bis dahin-"

„Ich bin hier", fiepte ich. Meine Stimme klang dünn und zittrig.
Beide Männer fuhren überrascht herum und sahen mich mit großen Augen an.
Unangenehm berührt rieb ich mir die Finger und suchte eilig nach Worten.
„Tut mir leid, dass ich einfach hereinplatze. Man sagte mir, Ihr würdet mich suchen..."
Unsicher sah ich vom einen zum anderen, doch keiner rührte sich.
„Ich... kann auch wieder gehen, wenn es unpassend ist, dann-"

„Nein!", brachte Rajan endlich raus. „Nein. Ich denke wir sind hier soweit fertig. Oder hast du noch irgendetwas Odrick?"
„Nein. Nein nein." Der König richtete sich auf, räusperte sich und strich sich einmal über den Bart. „Nun denn. Schön, dass Ihr wohlauf seid, Mylady. Rajan - so wie wir es besprochen haben." Er klopfte ihm einmal freundschaftlich auf die Schulter, doch an der angespannten Haltung der beiden bemerkte man sofort, dass es nur gespielt war. „Einen schönen Abend noch."
Damit nickte er mir noch einmal zu und rauschte an mir vorbei aus dem Raum.

Ich schaute ihm kurz hinterher, als ich mich wieder umwandte begegnete ich Rajans Blick. Seine dunklen Augen huschten über mein Gesicht, als würde er etwas darin suchen. Dann kam er um den Tisch herum, war mit wenigen Schritten bei mir und nahm mich schweigend in den Arm.
„Ich bin froh, dass es dir gut geht", murmelte er, nachdem er mich eine Weile einfach nur gehalten hatte. Ein warmes Gefühl breite sich in mir aus, bei der Aufrichtigkeit in seiner Stimme. Trotzdem war das schlechte Gewissen stärker.

„Es tut mir so leid, Rajan, ich-"
„Schon gut", unterbrach er mich und strich mir übers Haar.
„Aber-"
„Alles was zählt ist, dass es dir gut geht."

Ich wollte widersprechen, schloss den Mund aber doch wieder, als mir etwas mit erschreckender Gewissheit klar wurde.
Rajan wusste es. Er wusste wo ich gewesen bin. Man musste nur eins und eins zusammenzählen, um darauf zu kommen.

Ich fröstelte in seinem Arm, was ihn dazu brachte mich loszulassen. Er nahm sanft meine Hände und sah mich an. Der Unterton in seinem Blick bestätigte meinen Verdacht.
Alles in mir bereitete sich auf eine Konfrontation vor, doch als er zu sprechen begann, ging es um etwas anderes.

„Du standest schon länger hier, nicht wahr?" Er hob leicht einen Mundwinkel, doch es war kein ehrliches Lächeln. „Du hast wahrscheinlich einiges gehört."
„Tut mir leid", flüsterte ich und schaute betreten zu Boden.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Was soll's. Dass ich den Täter nicht finde, wird sowieso kein Geheimnis bleiben."

„Carla ist tot?" Ich starrte weiterhin auf unsere Füße. Vielleicht wollte ich seinen Gesichtsausdruck dabei gar nicht sehen.
Einen Augenblick schwieg er, ich bemerkte deutlich, wie er mit sich haderte.
„Ja", antwortete er schließlich. „Carla ist tot. Sie war zu schwach für... Odricks Methoden."

Ich kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander, hielt aber weiterhin den Blick gesenkt.
Man konnte nicht sagen, dass Carla eine Persönlichkeit war, mit der ich mich jemals gut verstanden hätte, aber ihr Schicksal hatte sich in mein Leben eingebrannt. Den verbissenen Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie mir gegenüber saß, sah ich noch immer so deutlich vor mir, als hätte ich gerade eben erst den Raum verlassen.
Ich hatte die Chance, sie zu retten...

„Dich trifft keinerlei Schuld, Aree." Rajans Stimme war ganz dicht an meinem Ohr. Unbemerkt war er wieder näher gekommen und legte jetzt die Hände an meine Oberarme. „Wenn jemand Schuld daran hat, dann ist es Odrick, wenn nicht im weiteren Sinne sogar ihr Vater selbst. Sanners hat nicht einmal nach seiner Tochter gefragt, nachdem sie die Feste wieder verlassen durften."

Ich ballte die Hände zu Fäusten und sah auf.
„Wo ist sie."
Er schaute irritiert. „Ich verstehe nicht ganz..."
„Wurde sie begraben?"
„Das... weiß ich ehrlich gesagt nicht."

Meine Augen brannten, aber weinen musste ich nicht. Irgendwie weckte es mehr Wut in mir als Trauer. Sie war unschuldig, eigentlich sogar ein Opfer ihres Vaters und musste für seine Dummheit und seinen Egozentrismus sterben. Aber nicht Willard Sanners war in meinen Augen in erster Linie schuldig, sondern der König mit seiner krampfhaften Paranoia und dem Wahn, den er seit den letzten Tage mit sich trug, war für ihren Tod verantwortlich.

„Bitte finde es heraus und sorge dafür, dass sie, wenn noch möglich, ein anständiges Begräbnis erhält, ja?"
„Natürlich."

Er zog mich noch näher und drückte seine Lippen auf meine Stirn.
„Für dich tue ich alles."

Stern des NordensWhere stories live. Discover now