100 Briefe [Ereri/Riren]

Tag 32

[ Levi // 41 // ]

Übermüdet und mit schmerzendem Rücken trotte ich in meinem Klassenraum und lasse mich auf meinem Platz nieder. Ich habe das Gefühl, als würde ich jeden Moment zu heulen anfangen müssen. Eren und ich haben uns auf der Autofahrt gestritten. Wegen nichts. 

Wegen mir. Wegen meinen Gedanken und meinen Depressionen. Wegen mir.

Es ist nicht so, als würde er das erste Mal merken, dass etwas nicht mit mir stimmt. Das hat er früher oft. 

✘"Hey Schatz.", haucht er und schlingt seine Arme um mich. Weinend kuschle ich mich an ihn und vergrabe mein Gesicht in seiner Schulter. "Lass mich nicht alleine, Eren.", heule ich und ich spüre, wie er mich hoch hebt und mich langsam zu meinem Bett trägt. Er legt uns hin und ich drücke mich an seine Brust. "Lass mich nicht alleine, bitte." - "Ich würde dich in solch einer Situation niemals alleine lassen.", er küsst meinen Kopf und ich muss mich zusammenreißen nicht laut zuschreien und mich an ihn zu klammern.

Ich habe nur noch ihn. "Was ist denn passiert, Levi?" Ich weiß genau, dass er auf das Blut im Badezimmer anspielt, doch absichtlich umgehe ich diese Antwort. "Meine Mutter hat einen Neuen. Er hat mich angeschrien, dass ich hässlich wäre und mich geschlagen." Ich hatte Eren vorhin geschrieben, dass ich heute doch nicht zu ihm kommen würde, weil etwas dazwischen gekommen ist. Er hat sofort gefragt, ob meine Mutter irgendwas gemacht hätte und war dann plötzlich hier.✘

"Levi? Wiederholst du das bitte?" Völlig verwirrt schaue ich Herrn Hartz an, der vor mir steht und mich seltsam besorgt mustert. Ohne etwas zu sagen stehe ich auf und gehe aus dem Klassenraum. Meine Sachen lasse ich einfach da, ich würde gleich wieder kommen und sie holen.

Im Sekretariat lasse ich mich krank melden und komme dann wieder in die Klasse, wo die Blicke sofort auf mir liegen. Ich reiche meinem Lehrer den Zettel mit der Krankmeldung und packe meine Sachen zusammen, ehe ich aus dem Schulgebäude verschwinde. 

Wohin, das weiß ich jetzt auch nicht. 

Wieso musste er sich wieder so über mich aufregen? Was habe ich nur falsch gemacht? Bitte sei nicht wieder weg! Das halte ich nicht nochmal durch.

Erst die Sache mit Mike und Erwin, nun ist Eren sauer auf mich. Wegen etwas, wofür ich nichts kann. Ich kann meine Depressionen nicht einfach abstellen. Das selbstverletzende Verhalten ignorieren und meine Vergangenheit vergessen. Das geht nicht, er sollte wissen, dass ich das nicht kann.

✘"Langsam habe ich das Gefühl, dass du mit Absicht her kommst um mich zu sehen, Levi.", grinst er und springt von einer Mauer runter. Ich lächle leicht, umarme ihn und zucke mit den Schultern. "Vielleicht." - "Was treibt dich her?", fragt er und legt einen Arm um meine Schultern. Ich fasse es noch immer nicht, dass er mit mir rumhängt. Immerhin ist er zwei Jahre älter als ich. Ich bin doch gerade mal 13. Was soll er schon mit mir?

"Weiß nicht genau. Vielleicht wollte ich dich wirklich nur sehen." - "Das freut mich, ich hatte nämlich nur auf dich gewartet. Wenn ich wüsste, wo du wohnst, dann wäre das alles nicht so problematisch." Ich nicke nur. 

Eine Weile lang laufen wir einfach nur so herum und unterhalten uns über dies und das, bis er stehen bleibt und mir plötzlich meinen Ärmel von der Schulter schiebt. Ich schaue einfach schweigend auf den Boden. Ich hatte gehofft, dass er es nicht sieht. Was soll er nun von mir denken? "Wer war das?" - "Bin hingefallen."

Eren hebt meinen Kopf mit zweien seiner Finger an und schaut mir eindringlich in die Augen. "Wer war das?", fragt er erneut und ich versuche seinem Blick auszuweichen. "Levi.", warnend, dennoch sanft tritt er einen Schritt näher und streichelt über meine Wange. "Das war der Typ von meiner Mutter. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Mir geht es gut.", denn ich bin bei dir. Und du sorgst dich um mich. Das ist ein völlig neues Gefühl für mich. Ein schönes Gefühl. Ein Gefühl, das ich nicht mehr so schnell missen möchte.

"Es ist doch nicht das erste Mal, oder?" Ich nicke nur und spüre sogleich, wie er seine Arme um mich schlingt. "Wenn ich irgendwas tun kann-"

"Geh einfach nie wieder weg.", murmle ich und drücke mein Gesicht in seine Brust. ✘

Ich bin automatisch zu der kleinen Gasse gelaufen, in der ich Eren das Erste mal sehen durfte. Ich betrachte die neuen Kunstwerke an den Steinwänden, vor nicht allzu langer Zeit hat Eren hier auch noch gesprayt, weil er sich in der Halle noch nicht getraut hatte. Er hatte Angst etwas 'kaputt' zu machen.

Ich fahre einige Linien der Werke nach und lächle leicht. Diese Art von Kunst beruhigt mich, irgendwie. 

"Levi?"

Ruckartig drehe ich mich um und sehe den Grund für meine miserable Laune an der Wand lehnen. "Wie lange stehst du da schon?" - "Eine Weile. Ich wollte her um mich einige Dinge in den Kopf zu rufen."

Er kommt auf mich zu und ich schaue einfach weiter in seine großen Augen. "Tut mir leid, wie ich heute Morgen war. Ich hätte einfach akzeptieren sollen, dass du nicht reden willst." - "Glaubst du wirklich, dass es mir darum ging, Eren? Momentan bricht alles was ich habe zusammen, bis auf du! Und nun bist du es, der mich eigentlich am meisten versteht. Ich konnte dir immer von meinen Problemen erzählen, nun will ich das einmal nicht tun und du schreist mich gleich an? Tut mir ja sehr leid, wenn ich deinen Vorstellungen nicht mal dann entspreche, wenn ich nichts tue! Ich bin es leid immer als der Täter dargestellt zu werden. Du warst es, der mich angeschrien hat, weil ich eine Kleinigkeit für mich behalten wollte! Du warst es, der nicht locker gelassen hat! Es ist nicht anders rum. Nur weil ich einmal nicht losgeheult habe, bin ich jetzt der Arsch? Freu dich doch lieber für mich, dass ich es mal geschafft habe mit dem Problem alleine fertig zu werden! Willst du noch immer wissen worum es ging? Es ging darum, dass ich mal wieder davon geträumt habe nicht genug für dich zu sein! Das ist es! Und ich hatte einfach mal wieder keinen Bock darauf mir von dir eingeredet zu bekommen, dass das gar nicht stimmen würde und ich alles sei, was du willst. Denn wir wissen beide, dass es nicht so ist."

Völlig fertig von meiner Rede drehe ich mich um und gehe einfach weg. Der kann mich mal. Er und seine Lügen. Ich bin ihm nicht genug. Es wird immer einen Teil in ihm geben, der sich jemand anderen suchen will. Diesen kleinen Teil, der nicht mit mir zufrieden ist. Auch, wenn er klein ist, er ist da und macht mich wahnsinnig, da ich nicht ahnen kann, wann der Teil die Macht übernimmt und Eren mich wirklich links liegen lässt. Wieder mit meiner Cousine vögelt oder sonst irgendwas Dummes macht, was ich ihm diesmal nicht verzeihen kann.

Vielleicht geht er auch wieder, weil ich ihm wieder zu anstrengend werde? Er weiß genauso gut wie ich, dass ich der Grund war. Der wirkliche Grund.

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