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"Du kannst rauskommen."
Ein Mann also, außer, diese Frau hatte eine sehr tiefe Stimme.
"Ich will dir nichts tun."
Natürlich nicht. Leo hatte zu viele Filme gesehen, zu viele Bücher gelesen, um diesem Versprechen zu vertrauen. Wenn sie sich jetzt verriet, dann konnte alles ganz schnell vorbei sein. Sie musste abwarten, bis er von selbst ging oder sich unter das Auto beugte und sie ihn überwältigen konnte. Immerhin hatte sie an ihren Dolch gedacht, für einen Überraschungsangriff würden ihre Fähigkeiten hoffentlich noch ausreichen.
Der Mann seufzte.
"Mein Name ist Kilian", sagte er. "Ich bin 30 Jahre alt und trage eine Pistole bei mir. Wenn du dich hier auskennst, hilf mir bitte. Ich habe mich ziemlich verlaufen."
Seine Waffe fiel auf den Boden und Leo war kurz versucht, danach zu greifen, doch sie wollte ihre Deckung immer noch nicht verlassen. Es war einfach zu gefährlich, dieser Kerl konnte das Blaue vom Himmel herunterlügen und sie wäre am Ende die Leidtragende.
"Bitte."
Leo verfluchte sich für ihr weiches Herz. Sie schnappte sich die Pistole mit der linken Hand und stach dem Mann gleichzeitig mit dem Dolch in ihrer rechten ins Bein. Es war keine gefährliche Verletzung, aber genug, um ihr einen Vorteil zu verschaffen, sollte er doch böse Absichten haben.
Sie kroch auf der anderen Seite unter dem Auto hervor und richtete die Waffe auf den Fremden, ohne auch die geringste Ahnung zu haben, wie man überhaupt damit umging.
Kilian fluchte und griff sich ans Bein, bevor er in den Lauf seiner eigenen Waffe starrte.
„Was sollte das?", fragte er. "Verdammt noch mal, ich brauche nur Hilfe!"
"Ganz ruhig", sagte Leo. "Ich habe keine Ahnung, wie viele dieser Dinger hier in der Nähe sind. Sag nicht, du hättest nicht dasselbe getan, wenn du an meiner Stelle gewesen wärst. Außerdem ist es nur ein Kratzer."
Kilian starrte sie finster an. "Kannst du mir helfen?", fragte er. "Ich suche die Zobelstraße, mein Bruder wohnt da ... hoffe ich zumindest."
"Du kommst nicht von hier?", fragte Leo. Kilian schüttelte den Kopf.
"Ich komme aus Aschaffenburg, ich bin mit dem Auto gefahren, so weit ich konnte, aber dann waren die Straßen so verstopft, dass ich laufen musste. Hier kenne ich mich überhaupt nicht aus."
Er wirkte aufrichtig und Leo hat ihre Reaktion fast schon leid.
"Ich bringe dich hin", sagte sie. "Es ist zwar überhaupt nicht meine Richtung, aber ... " Sie seufzte. "Es ist auch kein sehr langer Umweg."
Sie steckte ihren Dolch weg, behielt aber die Pistole in der Hand, während sie ihren Rucksack auszog und nach Verbandszeug kramte. Einen Kofferraum einzuschlagen würde zu viel Lärm machen.
"Hier", sagte sie und reichte Kilian eine Mullbinde und Desinfektionsmittel. "Für dein Bein. Wenn es schlimm ist, spendiere ich auch noch Schmerzmittel."
Überrascht nahm er die Sachen entgegen.
"Danke", sagte er, zögerte jedoch, sich um die Verletzung zu kümmern. Immerhin hielt sie immer noch seine Waffe auf ihn gerichtet. "Äh ... könntest du die vielleicht runternehmen? Das wäre sehr nett. Ich werde immer so nervös, wenn jemand mit einer Pistole auf mich zielt, weißt du? Übrigens, wie heißt du überhaupt?"
Er war wachsam und genauso misstrauisch ihr gegenüber wie sie ihm. Niemals hätte er geglaubt, dass eine Extremsituation aus Menschen so schnell Feinde machen konnte.
"Ich bin Leo", antwortete sie. "Sorry wegen des Beins, aber ... " Sie zuckte mit den Schultern. "Ich würde gern überleben, weißt du?"
"Immerhin hält dich die Apokalypse nicht davon ab, korrekte deutsche Grammatik anzuwenden." Er musste tatsächlich lächeln. "Dann muss ich mein Vertrauen in die Zivilisation ja doch noch nicht aufgeben. Ist schon gut, es ist ja wirklich nur ein Kratzer. Und ich hätte ja auch sonstwer sein können." Kilian seufzte. "Also. Kannst du mich zu dieser Straße bringen? Das wäre großartig. Ich habe zwar nicht viel, mit dem ich mich erkenntlich zeigen kann, aber vielleicht findet sich was. Ich glaube nicht, dass man in dieser Welt etwas umsonst bekommt."
"Wir gehen nebeneinander", sagte Leo. "Ich vertraue dir nicht und ich erwarte nicht, dass du mir vertraust."

Wecke nicht die Toten: Band 1Where stories live. Discover now