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Am liebsten hätte sie nach Kilian gerufen, doch sie wusste, dass die Wesen sie hören würden – wenn sie es nicht ohnehin schon getan hatten, wie gut ihr Gehör war, wussten sie ja immer noch nicht.
Dadurch, dass sich niemand mehr um die Kraftwerke und die Umspannwerke kümmern konnte, war es absolut finster, doch Leo traute sich nicht, ihre Taschenlampe einzuschalten, sondern hoffte einfach, dass ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen würden.
Es war schon komisch, dass sie sich kaum Gedanken darüber gemacht hatte, was wohl mit den ganzen Atomkraftwerken passiert war. Ob jemand noch die Möglichkeit gehabt hatte, sie auszuschalten oder ob in einigen eine Kernschmelze stattgefunden hatte. Wenn dem so wäre, dann könnte sie sich eigentlich auch fressen lassen, da die Umwelt mit großer Wahrscheinlichkeit verseucht war. Immerhin waren die Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet worden – auch, wenn sie deswegen noch lange nicht ungefährlich waren.
Leo kam nur langsam voran. Einerseits, weil sie hinter jedem Geräusch eins der Wesen befürchtete, andererseits, weil sie keine Ahnung hatte, in welche Richtung Kilian verschwunden war. Auf gut Glück war sie von dem vorher noch belagerten Supermarkt weggelaufen, doch bereits jetzt wurde ihr klar, wie aussichtslos ihr Unterfangen eigentlich war. Sie hätte bis zum Morgen warten sollen, wenn sie wieder etwas sehen konnte. Aber dann wäre Kilian längst über alle Bergen.
Ein Keuchen ließ sie aufhorchen und mitten in der Bewegung erstarren.
Da war eins der Dinger, ganz in ihrer Nähe. Verdammt! Und sie hatte keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sollte sie zurück laufen, hoffen, dass es sie nicht bemerkte und nicht verfolgte?
Oder sollte sie es lieber einen Kopf kürzer machen, bevor es seine Freunde auf den Plan rief? Aber dafür müsste sie näher ran oder das Wesen auf sich aufmerksam machen. Beides keine besonders verlockenden Möglichkeiten.
Doch im nächsten Moment erledigte sich ihr Problem, denn ein Schuss zerriss die Stille und das Wesen fiel ihr direkt vor die Füße.
In der Ferne war das Kreischen der anderen zu hören, für die der Schuss die Essensglocke gewesen sein musste.
„Kilian?", fragte Leo leise und hoffte, dass er es wirklich war und kein anderer Überlebender, für den sie vermutlich leichte Beute sein würde.
Der Schütze antwortete nicht, sie hörte nur Schritte, die sich rasch entfernten. Wenigstens hatte sie damit eine Spur, der sie folgen konnte, auch, wenn der Verfolgte mehr Kondition hatte als sie und schneller unterwegs war.
„Kilian!", rief sie jetzt lauter. Die Wesen hatten sie ohnehin gehört. „Bleib stehen und komm mit mir zurück! Bitte!"
Mit einem Mal kam alles zusammen, die bedrohliche, angsteinflößende Dunkelheit, die Gefahr durch die Wesen und ihre Furcht, Kilian zu verlieren. Wie hatte er gesagt? Sie war sein Anker in dieser Welt, solange sein Bruder nicht da war? Und was war mit ihr? Hatte er überhaupt an sie gedacht, als er davongelaufen war? Vermutlich nicht.
Alles, was sich aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihr heraus, sodass sie nicht weiter konnte, sondern nur weinend und als leichte Beute auf dem nassen Asphalt saß.
„Verdammt, Leo, was machst du für einen Mist?"
Jemand packte sie am Arm, zog sie wieder auf die Beine und zerrte sie in das nächstbeste Haus.
Sie bekam davon nicht wirklich viel mit, erst, als sie in einen Sessel gedrückt wurde, sah sie auf.
Vor ihr stand ein durchnässter Kilian und starrte sie angsterfüllt an.
„Hast du nicht gemerkt, dass die Dinger dich fast erwischt hätten? Wieso bist du nicht weggelaufen?"
Sie starrte ihn nur an, bevor sie wieder in Tränen ausbrach und Kilian um den Hals fiel.
„Ich hasse dich!", schluchzte sie. „Wie kannst du mir das antun, einfach so abzuhauen? Du bist so ein Arsch!"
Kilian hielt sie nur fest und ließ sich noch einige Minuten weiter beschimpfen, bis Leo sich beruhigt hatte.
„Warum bist du mir hinterher gekommen?", fragte er. „Noch dazu im Dunkeln?"
„Warum bist du überhaupt erst weggelaufen?", erwiderte sie und löste sich endlich von ihm. „Hättest du nicht so einen Scheiß abgezogen, hätte ich dich nicht suchen müssen!"
Er seufzte und wandte sich ab.
„Du würdest das nicht verstehen", murmelte er. „Es war ein Fehler, mit dir zu gehen und dann Balu und Fabian aufzunehmen."
„Versuch doch einfach mal, es mir zu erklären. Ich bin nicht so blöd, wie ich vielleicht aussehe", sagte sie und setzte sich wieder hin. „Wir haben sogar die ganze Nacht über Zeit, weil wir dank dir hier festsitzen."
„Ich will euch nicht in Gefahr bringen", sagte Kilian leise und ohne Leo anzusehen. „Und ... ich will nicht noch mal das durchmachen, was ich mit meiner Mutter und Stellas Mutter durchmachen musste. Ich will niemanden mehr umbringen, der mir etwas bedeutet. Dafür bin ich nicht stark genug."

Wecke nicht die Toten: Band 1Where stories live. Discover now