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„Ohhh", sagte Rotkehlchen und strich Balu über die Wange. „Geht das auch?"
„Hmmm ... ich glaube schon."
Er seufzte.
„Weißt du was? Ich finde „Rotkehlchen" unglaublich sperrig ... viel zu viele Silben. Obwohl ich nichts lieber täte, als dich so zu nennen, weil es sehr niedlich ist. Was würdest du von einem anderen Spitznamen halten?"
„Welcher würde dir denn vorschweben?", fragte sie, nicht gerade begeistert von der Idee.
„Wie wäre es mit „Gänschen"?", gab er zurück und grinste sie an.
„Gänschen? Wie kommst du denn darauf?"
„Es gab mal eine Fernsehserie, „Käpt'n Balu und seine tollkühne Crew". Fabi und ich haben sie immer geschaut, als wir noch Kinder waren. Nun, unschwer zu sagen, wer wer war. Ich war Balu und er Kit Wolkenflitzer. Damals war ich ... sagen wir, ich habe mich ziemlich gemacht, seitdem."
„Du warst pummelig?", fragte Rotkehlchen.
„Und viel zu haarig für mein Alter", nickte er. „Irgendwann hat mein Körper beschlossen, das Fettgewebe in Muskeln umzuwandeln, aber die Haare blieben. Na ja, ich schweife ab. Was uns gefehlt hat, war eine Seegans. Das war das Flugzeug von Balu", fügte er erklärend hinzu, als sie ihn fragend ansah. „Nun ... es ist zwar ein wenig spät, aber ... wenn es nach mir geht, haben wir unsere Seegans gefunden."
„Ich bin also ein Flugzeug", stellte Rotkehlchen fest. „Sehr schmeichelhaft."
„Das beste Flugzeug der Welt", korrigierte Balu. „Hilfe in allen Lebenslagen und Lebensretterin. Ich finde, du wärst die ideale Besetzung ... Gänschen."
Rotkehlchen seufzte.
„Okay ... überredet. Gänschen. Von mir aus. Aber nur, wenn ich häufiger von dir hofiert werde. Abgemacht?"
„Abgemacht", versprach Balu und reichte ihr die Hand.
Gänschen schlug ein, ließ ihn jedoch sofort wieder los, als von draußen erneut ein langgezogener Schrei ertönte. Aber dieses Mal war er eindeutig nicht menschlich.
„Scheiße!", fluchte Balu und stürmte aus dem Zimmer, um die anderen zu wecken, während Gänschen entsetzt nach draußen starrte.
Im fahlen Mondlicht sah sie, wie eine große Horde der Wesen genau auf ihr Haus zukam. Sie hatten also gewusst, wo sich ihre Beute befand und abgewartet – sie hatten eine Strategie entwickelt!
„Was ist los?", fragte Leanda, die als erste bei Gänschen ankam.
Sie deutete nur nach draußen.
„Scheiße!"
Die Horde war schnell, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie das Haus erreicht hatten.
„Können wir abhauen?", fragte Florian, der sich bemühte, wach zu werden. „Oder müssen wir uns einen Weg durchschlagen?"
Kilian wechselte einen Blick mit seinem Bruder und nickte.
„Ich gehe da raus und lenke sie ab", sagte er. „Ihr seht in der Zeit zu, dass ihr abhaut!"
Gänschen starrte ihn an, es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich wieder gefasst hatte.
„Ich helfe dir", sagte sie. „Ich glaube nicht, dass einer alleine das schafft. Dafür sind sie zu schlau ... ich bezweifle, dass selbst wir zwei es schaffen."
Kilian sah aus, als wollte er widersprechen, aber dafür blieb keine Zeit mehr.
„Schnappt euch eure Sachen und bleibt hinten!", rief Balu, der sein Schwert gezogen hatte. „Sobald ihr eine Passage seht – rennt!"
Emma und Lilli verteilten alles, was sie finden konnten, auf die Kinder und sich selbst, sie wussten, dass sie nicht so gut kämpfen konnten, wie es notwendig gewesen wäre.
„Die Pferde", sagte Gänschen zu Kilian. „Sie sind noch draußen und unsere einzige Chance."
Er packte ihre Hand.
„Ich will, dass du abhaust", sagte er. „Du sollst nicht sterben."
„Du auch nicht", erwiderte sie trocken.
„Hebt euch eure Romanze für nachher auf – keiner wird sterben, ist das klar?", sagte Leanda, während Lilli sich mühsam zurückhielt, um ihre beste Freundin nicht auf Händen und Füßen anzuflehen, bei ihr zu bleiben.
Keiner aus der Gruppe schien wirklich begeistert von Kilians Plan, aber sie hatten keinen besseren. Und sie wussten auch, dass die beiden die beste Wahl waren.
Balu und Leanda durften sie nicht verlieren, Emma und Lilli wären überwältigt worden, bevor sie auch nur ein Mal hätten blinzeln können und Fabian und Florian kannten sich nicht, es war also unsicher, ob sie gut miteinander arbeiten konnten.
„Passt auf euch auf", sagte Balu, dem es ähnlich ging wie Lilli. Gänschen war ihm an Herz gewachsen, er wollte sie lebend wiedersehen.
„Immer doch", versprach Gänschen, die sich denken konnte, dass sie gemeint war. „Du kommst mich einfach wieder suchen, wenn ich mich verirrt habe, okay?"
Balu lächelte schwach. Die Kinder waren viel zu verängstigt, um wirklich zu verstehen, was hier gerade passierte. Gänschen war froh darüber, es hätte alles nur unnötig kompliziert gemacht.
„Los!", zischte Kilian, die Hand schon am Türgriff.
Gänschen nickte und zog ihr Schwert, während Kilian seine Pistole in der Hand hielt.
Es würde schon funktionieren. Sie mussten nur die Pferde erreichen.
Kilian wollte gerade die Tür öffnen, als Gänschen sagte: „Lass mich vorgehen. Ich kann eine breitere Schneise mit dem Schwert schlagen als du mit der Pistole."
Dagegen konnte er nichts einwenden, obwohl er nichts lieber getan hätte.
„Okay", sagte er also nur. „Fertig? Sobald wir draußen sind, macht ihr die Tür wieder zu und wartet einen sicheren Zeitpunkt ab. Wir finden euch dann schon irgendwie. Alles klar?"
„Klar", sagte Fabian. „Passt auf euch auf."
Bis auf ihn zogen sich alle von der Tür zurück.
„Bis nachher", sagte er, Kilian öffnete die Tür und Gänschen versuchte, nicht gefressen zu werden, während sie mit dem Schwert um sich schlug.
Kilian hatte ein Messer in der einen und die Pistole in der anderen Hand und versuchte, Gänschen so gut es ging den Rücken freizuhalten, ohne selbst zu sehr in Gefahr zu geraten.
Es klappte überraschend gut, auch wenn sie beide der Verdacht beschlich, dass die Wesen gar nicht wirklich versuchten, sie zu überwältigen, sondern nur den Anschein davon erwecken wollten.
Aber sie machten auch keine Anstalten, das Haus zu überrennen.

Wecke nicht die Toten: Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt