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„Na, dann bin ich ja froh, ein paar Dosen davon mitgenommen zu haben", schmunzelte Leo. „Und dass ich das Zeug auf den Tod nicht ausstehen kann, seitdem mir in einem Theaterstück mal jemand welche vor die Füße gespuckt hat."
„Ihhh", machte Stella. „Wieso denn das?"
Leo beschloss, ihr am besten nicht zu erzählen, dass es sich um eine Szene aus „Die Leiden des jungen Werther" gehandelt hatte, in der er so getan hatte, als würde er sich in Kopf schießen, sondern eine kindgerechte Version zu erfinden. Wie auch immer das gehen sollte.
„Das weiß ich auch nicht", antwortete Leo. „Ich weiß nicht mal, ob der Schauspieler es selbst wusste ... aber Anweisung ist Anweisung. Jedenfalls kann ich seitdem keine Ravioli mehr essen. Außer, sie sind selbstgemacht, aber bis das wieder geht, dauert es noch ziemlich lange."
„Und warum hast du sie dann dabei?", fragte Finn. „Du konntest ja nicht wissen, dass du uns triffst!"
Jetzt, wo er sich wohler fühlte und keine Angst mehr vor ihnen hatte, war er endlich von dem „Sie" abgekommen, wie Leo erleichtert bemerkte.
„Sagt wer?", grinste sie. „Vielleicht bin ich auch eine Hexe und kann in die Zukunft sehen."
Finn starrte sie an, das war offensichtlich nicht die richtige Antwort gewesen.
„Dann willst du mich fressen?", fragte er und wurde tatsächlich blass. Was hatte er nur für Geschichten gehört, dass er so eine Angst vor Hexen hatte?
„Natürlich nicht", sprang Kilian Leo bei. „Sie ist keine Hexe, Finn. Versprochen. Sie ist unsere Gute Fee, ohne sie hätten wir uns nicht gefunden, kein Essen ... und ohne sie würde ich meinen Bruder bestimmt nicht finden, denn ich wüsste nicht mal, dass er noch lebt. Leo ist nur viel zu bescheiden, zu sagen, dass sie eine Fee ist."
„Hat sie Zauberkräfte?", fragte Finn mit einer Mischung aus Scheu und Neugier.
Bevor Leo „Nein" sagen konnte, mischte sich Balu in das Gespräch ein.
„Natürlich", sagte er. „Du hast sie selbst schon gespürt. Leo kann immer dafür sorgen, dass es einem gut geht. Und da wir keine Ahnung haben, wie sie das macht, sind es Zauberkräfte."
Leo beschloss, sich einfach zu fügen. Immerhin kam Stella nicht auf die Idee zu fragen, wieso sie ihre Mutter dann nicht wieder gesund – oder viel eher lebendig – gemacht hatte. Das wäre ganz schön kompliziert zu erklären gewesen.
Leo gab sich geschlagen und ließ Kilian und Balu ihre Märchen erzählen. Hoffentlich glaubten sie nicht wirklich daran und waren enttäuscht, wenn sie ihnen einmal nicht helfen konnte.
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis das Abendessen fertig war, sodass das leidige Thema recht schnell beendet war – obwohl Finn Leo immer wieder faszinierte Blicke zuwarf. Nun, immerhin hielt er sie nicht mehr für eine kinderfressende Hexe, also sagte Leo nichts dazu.
„Ich halte gerne die erste Wache", bot sie sich an. „Kilian? Bist du fit genug, mir Gesellschaft zu leisten?"
Er nickte.
„Hören wir nicht zuerst die Geschichte von der Königin, der Prinzessin und den Rittern weiter?", fragte Fabian. „Ich habe mich schon den ganzen Tag darauf gefreut."
„Die hat Balu vorhin schon fortgesetzt", antwortete Leo. „Lass sie dir von Stella zusammenfassen. Soll ich dich spoilern?"
„Wie gemein", schmollte Fabian. „Mir hat mein Bruder schon ewig keine Geschichte mehr erzählt und jetzt wiederholt er sie nicht mal mehr für mich."
„Schon gut, ich habe den Wink verstanden", lachte Balu, setzte sich bequemer hin und wiederholte die Geschichte. Das Essen war ohnehin noch zu heiß und so konnte er die Zeit sinnvoll nutzen.
„Dann bin ich ja mal gespannt, wie es morgen weitergeht", meinte Fabian und begann zu essen.
Finn verputzte seine Ravioli, als hätte er schon seit Tagen nichts mehr gegessen und auch Leo wirkte ausgehungert, obwohl er versuchte, es zu verstecken.
Leo sah auf ihre halb aufgegessene Portion. Sie konnten es sich nicht leisten, mehr Vorräte als nötig zu verbrauchen, aber sie konnte die Bruder auch nicht so hungrig schlafen lassen.
„Leo?", sagte sie. „Hier. Ich bin satt und es wäre schade um das Essen, wenn es verschwendet würde. Magst du es noch haben?"
Fabian, der Ravioli auf seinem Teller hatte, schloss sich ihr an.
„Mir geht's genauso", sagte er. „Finn? Magst du die Reste noch haben?"
Finn sah seinen Bruder unsicher an, der noch im Zwiespalt mit sich zu sein schien. Doch dann nickte er, nahm den Teller von Leo entgegen und gab Finn den von Fabian.
„Magst du noch bei mir mitessen?", fragte Kilian Stella. Er wollte nicht, dass das Mädchen neidisch wurde, obwohl er ihr zutraute, dass sie verstand, wieso Fabian und Leo ihr Essen an die beiden Jungen gegeben hatten.

Wecke nicht die Toten: Band 1Where stories live. Discover now