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Leo sah Stella an.
„Dürfen wir hier bleiben, Spätzchen?", fragte sie. „Dann könnten wir uns auch in aller Ruhe um deine Mama kümmern."
Stella nickte.
„Habt ihr was zu essen?", fragte sie dann leise. „Ich hab nämlich ganz doll Hunger ... wir haben zwar noch ein bisschen was, aber da komme ich nicht ran und Mama hat mir verboten, auf Stühle zu klettern ... außerdem wollte ich, dass noch etwas übrig ist, bestimmt hat sie auch ganz viel Hunger, weil sie doch so lange nichts essen konnte!"
„Klar haben wir was dabei", sagte Leo und setzte Stella ab. Zwar nicht so viel, wie ich gerne hätte, aber das muss sie ja nicht wissen, fügte sie in Gedanken hinzu.
Die drei Männer sahen sie besorgt an, doch sie schüttelte nur sacht den Kopf. Sie wollte nicht, dass Stella sich schlecht fühlte.
„Wie viel Uhr ist es denn?", fragte Fabian. „Schon Zeit zum Abendessen?"
„Könnt ihr ... könnt ihr erst meine Mama befreien?", fragte Stella. „Sie soll doch mitessen können!"
Kilian sah die anderen an, bevor sein Blick hilflos an Leo hängen blieb.
„Okay, Spätzchen", sagte sie und hockte sich zu Stella. „Wir beide bleiben hier unten und die drei starken Männer gehen nach oben. Sie müssen nämlich die Tür eintreten, um zu deiner Mama zu kommen und das wird bestimmt furchtbar laut. Ich mag keine lauten Geräusche und alleine möchte ich nicht hier bleiben."
„Dann bleibe ich bei dir", sagte Stella und lächelte. „Ich mag auch keine lauten Geräusche ..."
„Gut." Leo sah die drei Männer an. „Dann seht mal zu, dass ihr die arme Frau befreit."
Sie nickten und hofften, dass Leo Stella erklären würde, warum ihre Mutter nicht mehr am Leben war.
Sobald die Gruppe im ersten Stock verschwunden war, setzte Leo sich auf den Boden und zog Stella in ihre Arme.
„Hör mal, Spätzchen ...", begann sie. „Du weißt, was mit den Leuten da draußen los ist, oder?"
Das Mädchen nickte.
„Sie sind krank, deswegen sind sie so komisch und böse! Das hat jedenfalls Mama gesagt."
„Genau ... und weil so viele krank geworden sind, auch viele Ärzte ... gibt es hier noch keine Medizin dagegen. Oder eine Spritze, die verhindert, dass du dich ansteckst. Und ... es könnte sein, dass deine Mama ..."
Stella umklammerte Leo so fest, dass es schon fast wehtat.
„Du meinst, sie ist auch krank?", fragte Stella.
„Vielleicht, Spätzchen. Ich hoffe nicht. Aber wenn ..."
„Aber ich konnte ihr nicht mal „Auf Wiedersehen" sagen!"
Dem Mädchen traten die Tränen in die Augen.
„Ich weiß", flüsterte Leo und strich Stella über die Haare. „Aber du gehst bestimmt schon in die Schule, oder? Wenn deine Mama wirklich krank sein sollte ... wollen wir ihr dann einfach einen Brief schreiben und ihr geben? Dann ist immer etwas von dir bei ihr ... wenn du mit uns mitkommst. Wenn du das möchtest."
Eigentlich hatte Stella nicht wirklich eine Wahl, wenn ihre Mutter wirklich zu einem der Biester geworden war, würden sie die Kleine nicht alleine in diesem Haus lassen. Es würde zwar anstrengender werden, aber so verrohen konnte die Menschheit gar nicht, dass man Kinder einfach irgendwo alleine ließ.
Das Mädchen nickte.
„Aber ... wenn meine Mama nicht krank ist ... können wir dann beide mit euch mit?", fragte sie. „Hier sind so viele von diesen Dingern ..."
Leo hätte gerne sofort „Natürlich" gesagt, aber tatsächlich widerstrebte ihr der Zeit verloren. Und zwei Leute mehr, die sich ihrer Gruppe anschlossen, konnte Probleme bedeuten. Sie würden langsamer sein, brauchten mehr Essen. Balu, Fabian und Kilian konnte sie guten Gewissens allein lassen, sie wussten, was sie taten. Aber ...
„Natürlich, Spätzchen", sagte Leo leise. „Wir nehmen euch beide mit. Versprochen."
Stella lächelte und umarmte Leo.
„Danke, Leo ... du bist lieb."
Wenn es für diese Welt nur nicht zu lieb war.
Von oben war ein lautes Krachen zu hören und Leo hielt Stella schnell die Ohren zu. Keine Sekunde zu früh, denn das Wesen, das einmal ihre Mutter gewesen war, schrie wie am Spieß und gab auch sonst allerlei unheimliche Geräusche von sich. Bis es schließlich still wurde im Obergeschoss.
Leo nahm die Hände von Stellas Ohren.
„Spätzchen ..."
Stella wusste, was sie sagen wollte und brach in Tränen aus.
„Mama!", weinte sie. „Mama!"
Leo konnte das Mädchen nur festhalten, sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Sie fühlte sich schmutzig, obwohl die Männer die Frau erlöst hatten. Oder umgebracht. Und sie nur Stella hatte beschützen wollen.
Plötzlich erstarrte sie. Was, wenn es einen der drei erwischt hatte? Könnte sie sich das jemals verzeihen? Immerhin war es ihre Idee gewesen ... sie hatte Stella helfen wollen ...
Jetzt kamen auch Leo die Tränen, doch sie versuchte, sie so gut wie möglich vor Stella zu verbergen. Das Mädchen litt schon genug und es würde vermutlich lange dauern, bis es sich erholt hatte.
„Leo?"
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, während ihr gleichzeitig jemand Stella aus den Armen nahm.
„Alles okay mit dir?"
Sie blinzelte ein paar Mal, vor ihr stand Fabian, gesund und munter.
„Geht es euch gut?", brachte sie heraus. „Ist euch nichts passiert?"
„Nein", versprach Fabian. „Alles gut. Hey, komm her."
Er zog sie in seine Arme, während Balu und Kilian mit Stella beschäftigt waren, die zum Glück noch nicht ganz verstand, dass mindestens einer der drei gerade ihre Mutter umgebracht hatte.
„Ich hatte nur ... ich dachte ... wenn einem von euch etwas passiert ... meine Schuld ..."
„Unsinn", sagte er sanft und drückte sie an sich. „Wir sind freiwillig da hoch, die Kleine tat uns allen leid. Du warst nur die, die den Auftrag am nettesten verpacken konnte, das ist alles. Keiner von uns hat auch nur einen Kratzer abbekommen, wirklich."

Wecke nicht die Toten: Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt