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Balus Miene verfinsterte sich und er erwiderte nichts, sondern ging direkt zu Fabian, um Wache zu halten.
„Fuck", murmelte Leo. Sie wusste nicht, welchen Nerv sie getroffen hatte, aber dass sie ihn verletzt hatte, war deutlich zu spüren. Das hatte sie nicht gewollt.
Auch Kilian sah Balu besorgt hinterher.
„Ich schicke Fabian her, okay?", sagte Leo leise. „Ich muss mich entschuldigen, was auch immer da gerade passiert ist."
„Alles klar", meinte Kilian. Er hätte zwar gerne mit Leo Wache gehalten, aber ihm war klar, dass sie Balu nicht so zurücklassen wollte. Wahrscheinlich wäre am nächsten Morgen die Sache vergessen gewesen, aber Leo war nicht der Typ Mensch, der sich einfach „Schwamm drüber" sagen und so tun konnte, als sei nichts gewesen.
Vorsichtig stand sie auf und ging zu den beiden Brüdern.
„Was meinst du, kannst du auch mit Kilian Wache halten?", fragte sie Fabian. „Irgendwie kann ich nicht einschlafen und bevor ich mich bis zu meiner Schicht nur rumwälze und die Dinger anlocke oder, noch schlimmer, Stella aufwecke, würde ich lieber Wache halten."
Fabian nickte.
„Klar. Ich bin ohnehin hundemüde, keine Ahnung, ob ich meine Schicht durchgestanden hätte. Danke also, schätze ich."
Sie beide wussten natürlich, dass sie sich gerade gegenseitig belogen hatten, aber der Gruppenfrieden war wichtiger. Außerdem war es nötig, dass sie alle am nächsten Tag einen klaren Kopf hatten.
Balu sah Leo nicht an, als sie sich neben ihn setzte und sie wartete, bis sie sicher war, dass Fabian und Kilian schliefen, bevor sie etwas sagte.
„Ich wollte dich nicht verletzen", meinte sie irgendwann. „Es tut mir leid. Kannst du ... mir sagen, wieso es dich so getroffen hat?"
Vorsichtig lehnte Leo ihren Kopf an Balu Schulter und hoffte, dass er sie nicht abwies.
Er seufzte.
„Ich weiß, dass es keine Absicht war", antwortete er nach einigen Sekunden. „Weißt du ... ich bin bi. Als das alles anfing, war ich ausnahmsweise mal wieder bei meinem Bruder, mein Partner und ich waren gerade dabei, zusammenzuziehen.
Nachdem ich unser Haus, also Fabis und meins, so gut es ging verbarrikadiert hatte, machte ich mich auf den Weg zu Can, aber da war es schon zu spät. Vielleicht wollte er so schnell wie möglich bei mir sein, wissen, dass ich in Sicherheit war und es mir gut ging ... oder er hat es einfach mit der Angst bekommen. Ich weiß es nicht. Nachdem ich ihn ... ich weiß nicht, erlöst, umgebracht, was auch immer, hatte, ging ich wieder zu meinem Bruder zurück. Irgendwann entschieden wir uns, dass wir nicht mehr bleiben konnten und machten uns auf den Weg, irgendwohin. Ich bin ganz gut im Verdrängen, weißt du? Und ich hatte ja eine Aufgabe, das hat den Schmerz nicht gelindert, aber betäubt ..." Er seufzte. „Die Sache ist ..."
Balu sprach nicht weiter, er schien zu überlegen, wie er das, was er sagen wollte, am besten formulierte.
„Kilian ist ein toller Kerl", fuhr er dann fort. „Und ... es könnte passieren, dass ich mich über kurz oder lang in ihn verliebe. Das ist aus mehreren Gründen problematisch. Erstens ist es ziemlich offensichtlich, dass du ihm sehr wichtig bist. Zweitens ..." Er unterbrach sich wieder.
Leo beschloss, dass sie es jetzt wagen konnte, etwas zu sagen.
„Du fühlst dich schuldig", vermutete sie und Balu nickte.
„Ich weiß, dass deine Bemerkung nicht böse gemeint war, aber sie hat so viele Dinge aufgewühlt, für die einfach keine Zeit war und ist ... es tut mir leid, dass ich einfach so gegangen bin, aber hätte ich das nicht getan, wäre es wahrscheinlich böse ausgegangen. Meine Pflichten zu erfüllen, war schon immer der beste Weg, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Irgendwann, wenn wir deine Freundin gefunden haben und weitestgehend in Sicherheit sind, werde ich mir die Zeit nehmen, zu trauern und zu verarbeiten. Aber so weit sind wir noch nicht, also ist es besser, wenn das alles tief, tief vergraben bleibt."
Leo konnte es ihm nachfühlen. Sie alle hatten an so viele Dinge zu denken, mussten immer auf der Hut sein ... es war gefährlich, in Sicherheit zu sein, denn das trübte ihre Sinne und sorgte dafür, dass sie nachdenken konnten.
Kilian war dafür das beste Beispiel.
„Ich bin für dich da, okay?", sagte Leo leise. „Und Kilian und Fabian auch. Du musst dich nicht schuldig fühlen, niemandem gegenüber, wenn du Gefühle für Kilian entwickeln solltest. Ich weiß, wie weh es tut, zurückgewiesen zu werden, aber du weißt ja nicht, ob es wirklich so kommt, oder? Natürlich bin ich Kilian wichtig, ihr seid mir auch wichtig. Wir sind eine Familie, passen aufeinander auf und sorgen uns umeinander. Keiner wird allein gelassen, egal, was passiert. Egal, um welche Probleme es sich handelt. Außerdem ... unsere sogenannten Normen gelten nicht mehr. Es spricht nichts dagegen, eine Beziehung mit mehreren Personen zu haben."
Sie sprach nicht weiter.
„Tut mir leid ... es gibt zu viel, was ich dazu sagen könnte, aber ... das heben wir uns für dann auf, wenn wir beiden irgendwann mal gemeinsam auf dem Dach unseres Hauses sitzen, Wache halten und Whisky trinken. Wenn die Zeit für Gespräche gekommen ist."

Wecke nicht die Toten: Band 1Where stories live. Discover now