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„Meinst du, es war Zufall?", fragteGänschen. „Ich meine, dass sie wussten, wie ich heiße. Dass siedie Stimmfrequenz meiner Mutter erwischt haben. Oder ... haben sievielleicht ein kollektives Gedächtnis? Einen Parasiten, derInformationen kopiert und verteilt?"

„Mach sie ruhig noch unheimlicher,als sie ohnehin schon sind", sagte Balu. „Aber ganz ehrlich? Ichhabe keine Ahnung. Vielleicht beherrschen sie Telepathie, vielleichtist es etwas Anderes. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auchnicht. Letzten Endes können wir nur spekulieren."

Dem konnte Gänschen nur zustimmen.

Schweigend ließen sie die Pferdeantraben, um so schnell wie möglich offenes Gelände zu erreichen.Nur weg aus der Stadt, die nur noch von diesen Wesen bevölkert zusein schien.

Sobald sie konnten, wichen sie von derStraße ab in offenes Gelände. Hier waren zwar ihre Spuren leichterzu sehen, doch sie machten weniger Lärm.

Kilian und die anderen waren vermutlichnicht auf die Felder ausgewichen, nicht mit dem Auto, aber sie beidemussten zusehen, dass sie so wenig Aufmerksamkeit wie möglich aufsich zogen.

„Was hat sie nur dazu bewogen, denStützpunkt zu verlassen?", sagte Gänschen mehr zu sich selbst alszu Balu.

„Vielleicht ja das gleiche, was dirpassiert ist", erwiderte Balu. „Wir finden sie schon irgendwie.Uns bleibt gar nichts anderes übrig."

Gänschen hoffte inständig, dass erRecht behalten würde.

Als die Dämmerung einsetzte, hattensie gerade eine Ansammlung von Schrebergärten erreicht.

Balu brach das Schloss zu einem mitbesonders komfortabel aussehender Hütte auf und verriegelte die Torhinter ihnen.

„Immerhin müssen wir die Pferde hiernicht anbinden", sagte Gänschen. „Vielleicht gibt es hier sogarnoch etwas Essbares."

„Sei vorsichtig", warnte Balu, alsGänschen sich auf die Suche machte. „Wer weiß, was diese Biestersich noch alles einfallen lassen können. Ich schaue mal, ob ichsauberes Wasser finde, ich möchte mir ungern Bandwürmer einfangen."

„Guter Einwand", sagte Gänschenund blieb stehen. „Wir müssen unbedingt Tierarztpraxen auf unsereimaginäre Liste setzen. Und Abführmittel, für den Fall der Fälle.Das wirkt ganz gut gegen die Viecher."

Balu verzog nur angewidert das Gesicht.Wenn es nach ihm ging, konnte er auf so eine Erfahrung getrostverzichten.

„Geh Essen suchen", sagte er undversuchte, die Bilder aus seinem Kopf zu bekommen.

„Bis später."

Gänschen machte sich auf den Weg,hatte jedoch kaum Hoffnung, etwas Geeignetes zu finden. Es warfraglich, ob sie ein Feuer machen konnten, oder ob die Gefahr,entdeckt zu werden, zu groß war.

Egal, wem dieser Garten gehört hatte,er war auf jeden Fall ein Freund von Selbstversorgung gewesen. Nurleider fand sie kaum Dinge, die man roh essen konnte – und dasmeiste Gemüse lieferte ohnehin zu wenig Energie.

Mit ihrer mageren Ausbeute machte siesich auf den Rückweg und hoffte, dass es wenigstens noch Trinkwassergab, irgendwo.

„Hast du was gefunden?", fragte sieBalu.

„Konserven. Wasser ist leiderMangelware", antwortete er. „Was ist mit dir?"

Wortlos hielt sie ein paar Möhren undGurken hoch.

„Immerhin gibt es noch Nachtisch, dadraußen wachsen Johannis-, Brom-, und Himbeeren. Aber die werden soschnell matschig, also habe ich sie erst mal am Strauch gelassen."

„Hast du auch was für die Pferde?",fragte Balu. „Oder überlassen wir ihnen einfach alles, was siehaben wollen?"

„Letzteres ist am einfachsten. Siewerden uns schon nicht alles wegfressen, es gibt hier genug Gras",sagte Gänschen. „Nehmen wir die Konserven für die anderen mit?"

Balu zögerte, als er sagte: „Du hastdich schnell an die neue Situation gewöhnt, oder?"

„Was meinst du?", fragte sie, dochdann dämmerte es ihr. „Meinst du, das hier gehört jemandem, dernoch lebt und dessen Überlebenschancen wir drastisch dezimierenwürden?"

„Ja", sagte Balu. „Wohnungen sindwas anderes, denen sieht man es ja meistens noch an, dass sie bewohntsind, aber so eine Gartenhütte ..."

Gänschen seufzte.

„Schon gut. Um es mit Mackie MessersWorten zu sagen: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Und zufressen haben wir noch was, also können wir moralisch handeln. Lassuns reingehen, ich fühle mich wie auf dem Präsentierteller."

Balu nickte und machte die Pferde los.

„Wir halten abwechselnd hier draußenWache, damit niemand auf die Idee kommt, uns zu bestehlen", sagteer.

„Ich bleibe zuerst draußen", sagteGänschen. „Aber jetzt lass uns erst mal was essen, sonst werde ichnoch bissig. Irgendwann demnächst müsste ich meine Periodebekommen, wenn der ganze Stress sie nicht verhindert, mit PMS mutiereich leider zur Oberzicke, vor allem, wenn ich auch noch hungrig undmüde bin."

„Also so wie ich auf Kaffeeentzug?",fragte Balu. „Alles klar, ist notiert. Und danke für dieErinnerung, unbedingt einen Schokoladenvorrat anzulegen – oder istdas nur ein Klischee?"

„Schokolade und Kuchen, aber gernealles, was fettig ist." Sie lächelte ihn an. „Danke, dass du sonachsichtig bist."

„Wie gesagt, ich kenne das. Alsosorgen wir jetzt mal dafür, dass du wieder bessere Laune bekommst."

Er machte sich daran, das Abendessenvorzubereiten, was in Ermangelung von Kochplatten aus kaltenDosengerichten aus ihrem eigenen Vorrat und etwas Rohkost bestand.

Gänschen wusste es besser, als sich zubeschweren, immerhin hatten sie wenigstens etwas zu essen, und dafürwar sie dankbar.

Als sie fertig waren, stellte sie dieKonserven weg und streckte sich.

„Bis nachher", sagte Balu. „Weckmich, wenn du müde wirst."

„Mache ich", versprach sie. „Schlafgut."

Es war zwar noch nicht dunkel, aber eswar besser, jeden Schlaf zu nehmen, den man kriegen konnte. Außerdemkonnten sie dann auch möglichst früh und möglichst ausgeruht los –und es gab ja auch nichts, was sie hier hätten tun können.


Wecke nicht die Toten: Band 1Where stories live. Discover now