26

185 13 0
                                    

Sobald die Sonne aufgegangen war, machten die beiden sich vorsichtig auf den Weg zurück.
In den Straßen lauerten mehr dieser Wesen als sonst, was Leo auf den nächtlichen Schuss schob. Sie mussten vermuten, dass noch Beute in der Nähe war, doch Leo und Kilian waren leise genug, um nicht bemerkt zu werden.
Leo war hundemüde. Zwar hätte sie ohnehin die zweite Wachschicht gehabt, doch die Anspannung saß ihr in den Knochen. Sie hatte jede Sekunde damit gerechnet, dass die Wesen ihnen Tür einrannten oder die Fenster einschlugen. Ob sie in diesem Zustand einen Tagesmarsch absolvieren konnte, war fraglich. Noch dazu mit einem Kind, auf das sie aufpassen mussten. Und Balu und Fabian hatten wohl überhaupt nicht geschlafen, was bedeutete, dass sie ohnehin einen Tag verloren.
Am liebsten hätte Leo laut geflucht, doch das war zu gefährlich. Sie hoffte nur, dass sie Lilli noch erreichen würden. Irgendwie.
„Ich hoffe, jemand hat Kaffee gemacht", sagte Leo leise, als Stellas Haus in Sicht kam. „Sonst werde ich definitiv ungemütlich."
Kilian hatte schon bemerkt, dass Leo unterwegs immer mürrischer geworden war – nicht, dass er es anders verdient hätte – aber er hoffte, dass sich das bald wieder legte.
„Ist uns etwas gefolgt?", fragte Leo. „Sollen wir einfach klopfen? Oder uns unauffällig bemerkbar machen?"
„Und wie?", gab Kilian zurück. „Der Himmel ist bedeckt, eine Lampe habe ich nicht dabei. Licht fällt also weg."
„Also doch klopfen", stellte Leo fest. „Ich gehe, du wartest hier. Falls was passiert, kannst du sie besser ablenken als ich. Du hast mehr Ausdauer."
„Ist das wirklich eine gute Idee?", fragte Kilian.
„Nein", antwortete Leo. „Aber die einzige, die wir im Moment haben, oder? Drück mir die Daumen und so. Halt dich bereit."
Sie zögerte kurz, doch dann küsste sie ihn flüchtig auf die Wange.
„Bis gleich, ja?"
Bevor er noch etwas sagen konnte, war sie schon aufgesprungen und zur Tür gelaufen.
Leo hoffte, dass sie jemand einließ. Dummerweise waren sie nicht auf die Idee gekommen, ein Klopfzeichen zu vereinbaren, an dem man sie erkannte.
Zum Glück war Balu so in Sorge um sie gewesen, dass er sofort die Tür aufriss und sich nicht um die Sicherheit kümmerte.
Kilian kam aus seinem Versteck hervor und schlüpfte ins Haus, während Balu Leo in die Arme schloss.
Fabian machte die Tür zu, damit sie nicht allzu offensichtlich zum Essen einluden.
Während Leo sich bemühte, aus Balus Umklammerung zu entkommen, herrschte zwischen Kilian und Fabian ein unangenehmes Schweigen. Keiner wusste, was er sagen sollte, doch Stella entschärfte die Situation.
„Du bist wieder da!", rief sie und sprang Kilian in die Arme. „Warum bist du weggelaufen?"
Wie sollte er das jetzt erklären? Am besten gar nicht.
„Ich weiß es nicht, Liebes", sagte er leise. „Aus Angst, wahrscheinlich. Es kommt nicht noch mal vor, versprochen."
„Das wollen wir hoffen", sagte Fabian. „Wir haben uns verdammt noch mal Sorgen um euch gemacht! Wir sind eine Gruppe, da kann ich jeder gehen wie er will! Wir sind aufeinander angewiesen!"
Kilian merkte erst jetzt, wie sehr Fabian sich zurückhielt, um Stella keine Angst zu machen.
„Dem kann ich mich nur anschließen", mischte Balu sich ein, nachdem er Leo endlich losgelassen hatte. „Sowas geht einfach nicht, uns erst aufnehmen, dich mit uns anfreunden und dann abhauen. Keiner von uns ist einfach so austauschbar."
„Es tut mir leid", murmelte Kilian betreten und fühlte sich wie ein Kind, das von seinem Vater ausgeschimpft wurde.
„Balu, Fabi, es reicht", sagte Leo. „Geht ins Bett und schlaft ein wenig, dazu dürftet ihr in der Nacht nicht gekommen sein. Und morgen gehen wir dann endlich weiter."
Sie wollte nicht fragen, ob sich die beiden schon etwas wegen Stellas Mutter überlegt hatten, obwohl sie nicht darum herum kommen würde, wenn sie aufbrachen.
Das Mädchen schien jedenfalls erst mal froh zu sein, dass sie und Kilian wieder da waren.
Balu sah aus, als wollte er widersprechen, doch ein Hundeblick von Leo reichte aus, um ihn davon abzuhalten.
Er umarmte erst Kilian, dann sie, bevor er seinen Bruder am Arm nahm und es sich nebenan auf dem Sofa bequem machte.
„Und wir beiden halten Wache", sagte Leo zu Kilian, bevor sie Posten am Fenster bezog.
Stella hatte beschlossen, bei ihnen bleiben zu wollen und setzte sich zu ihnen, wo sie keine Sekunde später eingeschlafen war.
Der Tag verlief so ereignislos wie die letzten, ebenso die Nacht.
Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, schrieb Stella einen Brief für ihre Mutter, den Kilian zu ihrer Leiche brachte.
Es stellte sich heraus, dass sie, bevor sie zu einem der Wesen geworden war, eine Notiz für Stella hinterlassen hatte, in der sie schrieb, wie sehr sie ihre Tochter liebte und dass sie bestimmt jemanden fände, der sie genauso lieben würde wie sie es getan hatte, dass sie eine wundervolle Frau werden und diese schlimme Zeit ganz sicher überstehen würde.
Stella presste den Zettel an sich, nachdem sie alle ihre Sachen gepackt hatten und auf dem Weg nach draußen waren. Das Mädchen weinte zwar, aber es bemühte sich, dabei leise zu sein. Getragen werden wollte sie nicht.

Wecke nicht die Toten: Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt