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„Geht's wieder?", fragte Kilian und trat einen Schritt näher.
„Ja", antwortete sie. „Passt schon. Muss ja. Ich hoffe, ich gewöhne mich irgendwann daran." Sie seufzte. „Könntest du mich kurz in den Arm nehmen?", fragte sie. „Ich glaube, ich könnte das gerade brauchen."
Kilian zögerte. Leo hatte ihn zwar in der Nacht nicht angegriffen oder ihm sonst einen Grund gegeben, ihr zu misstrauen, aber es waren schon zu viele Leute hinterrücks erstochen worden, als dass er so einfach bereit war, dieses Risiko einzugehen.
Aber ganz sich selbst überlassen wollte er sie dann auch nicht, also drückte er sie flüchtig an sich und ließ sie sofort wieder los.
„Entschuldige", sagte er. „Aber ... ich möchte vorsichtig sein. Okay?"
„Okay", erwiderte Leo, die tatsächlich etwas enttäuscht war, obwohl sie selbst in dieser Situation nichts anderes gesagt hätte. „Lass uns weitergehen. Danke, Kilian. Wirklich."
Sie lächelte ihn an.
„Gerne."
Die beiden setzten ihren Weg fort, bis die Dämmerung nicht mehr fern war.
„Wir sollten uns eine Bleibe suchen", sagte Leo und sah sich um. Ein Schild zeigte einen Rasthof in zwei Kilometern Entfernung an.
„Wollen wir es da mal versuchen?", fragte sie. „Selbst, wenn dort alles kaputt ist ... vielleicht ist ja ein LKW nicht abgeschlossen und wir können die Schlafkabine nutzen. Alles ist besser, als hier auf der Straße zu bleiben."
„Alles klar." Kilian mochte den Vorschlag, ihm war ein Dach über dem Kopf auch lieber als eine Nacht in der, man musste schon fast sagen, Wildnis.
Die restliche Strecke legten sie zügig zurück und betraten mit einem flauen Gefühl im Magen den Parkplatz.
Die Autos, die hier standen, sahen geplündert aus, ebenso die LKW. Die Fester des Rasthofes waren zerschlagen, die Möbel teilweise zerstört, teilweise auch nur durch den Raum geschleudert worden.
„Sieht einladend aus, oder?", meinte Kilian. „Ich schaue mal, ob jemand zu Hause ist. Hältst du mir den Rücken frei?"
„Mache ich", antwortete Leo und hielt ihren Dolch fester. Sie musste sich unbedingt eine andere Waffe zulegen, eine, die mehr Reichweite hatte. Auf Dauer war es zu gefährlich, so nah an die Dinger heranzugehen. Zumindest, wenn man nicht kämpfen konnte. Ein Schwert wäre doch was. Leise, effektiv, nur leider schwer zu bekommen. Und es hatte ziemlich viel Gewicht und war unhandlich.
Am liebsten hätte sie einen Bogen oder eine Armbrust gehabt, aber Zielen und Treffen waren nie Leos Stärken gewesen. Eine solche Waffe war in ihren Händen ein unwägbares Risiko, das sich niemand leisten konnte, einzugehen.
Leise folgte sie Kilian in das verlassene Gebäude und versuchte, nicht auf das Glas am Boden zu treten, für den Fall, dass sie nicht alleine waren.
Eigentlich erwartete sie das schon beinahe, denn wo sollten die Wesen sonst sein? Kilian und sie konnten nicht so ein unverschämtes Glück haben, ihnen nicht oder nur sporadisch über den Weg zu laufen, oder?
Kilian gab ihr ein Zeichen, zu ihm zu kommen.
Jemand oder etwas befand sich im Untergeschoss bei den Toiletten. Sollten sie es riskieren, nachzusehen? Oder den Rückzug antreten? Wie gefährlich war es, wenn sie sich vorbei schlichen und sich einen Unterschlupf suchten?
Kilian hielt das Risiko offenbar für annehmbar, denn er deutete nach oben und ging vorsichtig die Treppe hinauf.
Leo hielt sich dicht an seinen Fersen, sie wollte auf gar keinen Fall mit dem Wesen in den Toiletten alleine bleiben.
Nervös warf sie immer wieder einen Blick über die Schulter, ob sie auch wirklich alleine blieben, doch nichts regte sich. Auch das Obergeschoss war wie ausgestorben. Wie viele Leichen wohl hinter den Türen lagen? Oder wie viele Menschen sich außer ihnen hier verschanzt hatten?
Wie viele von ihnen wohl Monster waren?
Kilian fand eine Tür, die nicht abgeschlossen war, und schob sie vorsichtig auf, währen Leo den Flur im Auge behielt.
Wie zuvor in Frankfurt schienen sie Glück zu haben, der Raum war verlassen, doch leider konnte man ihn nicht abschließen.
„Schieben wir etwas vor die Tür?", fragte Leo. „Oder macht das zu viel Lärm?"

Wecke nicht die Toten: Band 1Where stories live. Discover now