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Wenn es doch nur so einfach umzusetzen wäre. Aber das war eben die Sache mit Kalenderweisheiten. Sie klangen gut, aber wenn es daran ging, auf Worte Taten folgen zu lassen, scheiterte man, weil einem das echte Leben in die Quere kam.
Wieder und wieder sah sie auf ihre Uhr, die Zeit verging viel zu langsam.
Als es endlich Zeit für die Ablöse war, fühlte Gänschen sich nicht im Mindesten müde, versuchte aber trotzdem zu schlafen.
Es half niemandem, wenn sie sich am nächsten Tag übermüdet auf den Weg machte.
Doch nachdem sie sich gefühlt eine weitere Stunde nur herumgewälzt hatte, stand sie auf und ging zu Balu.
„Kann ich bei dir schlafen?", fragte sie leise. „Ich hab da hinten kein Auge zugetan ..."
„Komm her", sagte er nur und Gänschen setzte sich neben ihn und lehnte sich an ihn.
„Danke ...", murmelte sie. „Tut mir leid, wenn ich dich ablenke, aber ..."
„Ist schon gut", unterbrach er sie und legte einen Arm um ihre Schultern. „Außerdem tut sich da draußen ohnehin nichts, also ... lenkst du mich auch nicht ab."
Gänschen nickte nur und merkte, wie ihr die Augen zufielen.
„Gute Nacht", sagte sie noch.
Balu lächelte, küsste seine Freundin flüchtig auf die Haare und sah dann wieder nach draußen.
Er konnte nur zu gut verstehen, wieso sie nicht hatte schlafen können.
Als schließlich die Sonne aufging, weckte er Gänschen, obwohl er sie am liebsten schlafen gelassen hätte, aber sie mussten weiter. Er selbst hätte viel darum gegeben, sich noch ein wenig ausruhen zu können, aber dafür hatten sie keine Zeit.
„Ich vermisse meinen Kaffee", seufzte sie, als sie sich streckte. „Und eine Zahnbürste und Zahnpasta. Und eine Dusche. Ich fühle mich so widerlich!"
Balu konnte dem nicht wirklich widersprechen, ihm ging es ähnlich. Sie hatten ja nur das nötigste von allem mitgenommen, da gehörten Kaffee und Duschgel nicht dazu.
Allerdings ...
„Hier", sagte er und zog eine Packung Kaugummis aus seiner Jackentasche. „Die hab ich ganz vergessen, eigentlich sind sie für Notfälle ... aber ich glaube, das hier ist einer, oder?"
Gänschen starrte die Packung an, dann lächelte sie breit und fiel Balu um den Hals.
„Du bist großartig!", sagte sie. „Vielen Dank!"
„Ich weiß", sagte er. „Komm jetzt. Wir müssen los."
Vorsichtig öffneten sie die Tür und überprüften die Lage. Von den Wesen war keines zu sehen, auch die Pferde waren ruhig.
„Wir müssen Wasser für sie auftreiben", meinte Gänschen. „Und sie irgendwo grasen lassen, sonst kommen wir heute nicht weit."
Schnell überprüften sie die Tiere auf Scheuerstellen und sonstige Verletzungen, bevor sie sich auf den Weg machten.
„Also erst mal Wasser suchen?", fragte Balu. „Irgendein Gewässer muss es doch hier in der Nähe geben."
„Theoretisch", erwiderte Gänschen. „Praktisch könnten uns diese Dinger einen Strich durch die Rechnung machen."
„Versuchen wir, optimistisch zu bleiben", meinte er.
Sie machten sich auf die Suche nach einem Teich, Bach oder Fluss, an dem die Pferde trinken konnten, aber es dauerte über eine Stunde, bis sie etwas Geeignetes gefunden hatten.
Viele andere Stellen hatten zu viele Möglichkeiten für einen Hinterhalt geboten, was sie nicht hatten riskieren wollen.
„Wenn wir die anderen gefunden und uns irgendwo ein wenig eingelebt haben, sollten wir definitiv Eimer mitnehmen, wenn wir mit den Pferden rausgehen", sagte Gänschen. „Wir können es uns nicht leisten, immer so viel Zeit zu verlieren."
Balu nickte. Hier in freiem Gelände sollten sie sich so leise wie möglich verhalten, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sobald die Pferde getrunken und gefressen hatten, machten sie sich langsam wieder auf den Weg, in der Hoffnung, nicht plötzlich von den Wesen überrascht zu werden.
Gänschen und Balu hielten Ausschau nach Hinweisen, die jemand für sie hinterlegt hatte, doch sie fanden nichts dergleichen.
Als es schließlich auf Mittag zuging, beschlossen sie, eine Pause zu machen.
„Also doch hier warten?", fragte Gänschen. „Ich meine, wir kommen keinen Schritt weiter. Wir wissen ja nicht mal, ob wir gestern in die richtige Richtung geritten sind."
Dem konnte Balu nur zustimmen und es frustrierte ihn ungemein. Nicht einmal zu wissen, wo sie waren, ob das, was sie taten, überhaupt einen Sinn hatte, machte ihn fertig.
„Oder wir trennen uns", machte Gänschen einen zweiten Vorschlag.
„Kommt nicht in Frage", erwiderte er. „Wir bleiben zusammen. Am Ende finden wir uns dann gar nicht mehr wieder. Und wenn ich schon ohne meinen Bruder auskommen muss, will ich dich nicht auch noch verlieren."
Gänschen hatte dem nicht wirklich etwas entgegenzusetzen.
„Also dann? Was machen wir?"
Balu seufzte.
„Wohl oder übel hier in der Nähe bleiben", entschloss er sich.
„Okay. Und was machen wir so lange? „Ich hab noch nie" spielen? Oder „Ich sehe was, was du nicht siehst?"
„Was zu essen suchen", sagte Balu. „Wobei trinken wichtiger ist, aber ... hungrig und auf Kaffeeentzug bin ich unausstehlich. Dass ich dich noch nicht gefressen habe, liegt nur daran, dass ich dich ziemlich lieb habe, Gänschen. Und du mein Kaffeeverlangen nachvollziehen kannst."
„Sehr", antwortete Gänschen. „Okay, Essen suchen. Und vielleicht haltbaren Kaffee oder sowas. Mit Cola oder Eistee muss ich dir gar nicht kommen, denke ich. Und dann überlegen wir, was wir als nächstes tun. Ich meine ... wenn wir ihre Spuren nicht finden, sollten wir vielleicht selbst welche auslegen, was meinst du? Fragt sich nur, welche ..."
„Pferdeäpfel?"
Sie lachte.
„Ich fürchte, die sind zu kurzlebig ... außerdem müssen sie und wir ja davon ausgehen, dass noch mehr Pferde frei herumlaufen. Wir sollten etwas Eindeutigeres nehmen."
Balus Blick wanderte zu Gänschens Haaren. Ihr Lächeln verblasste, als sie es bemerkte.
„Nein", sagte sie. „Nicht meine Haare. Vergiss es, Apokalypse hin oder her. Meine Haare bleiben dran, egal, wie auffällig die Farbe ist."
Balu öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber sie unterbrach ihn, bevor er etwas sagen konnte.
„Nein", wiederholte sie. „Nur über meine Leiche. Wirklich."
„Schon gut", gab er sich geschlagen. Er wollte Gänschen auch nicht dazu zwingen. Davon abgesehen, dass die Wesen sich vielleicht an ihre Haarfarbe erinnerten.
Gänschen legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Tut mir leid", sagte sie leise. „Aber ... es ist das einzige, was von mir geblieben ist, verstehst du? Wenn es unbedingt nötig sein sollte, opfere ich sie irgendwann, aber ... jetzt haben wir noch andere Möglichkeiten, oder?"
„Ja", antwortete er. „Irgendwas wird sich schon finden."
Wobei Balu sich dessen überhaupt nicht sicher war, ebensowenig wie Gänschen. Aber mehr als Abwarten konnten sie jetzt nicht mehr tun.

Wecke nicht die Toten: Band 1Where stories live. Discover now