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Sobald sie vollzählig waren, wurde die Atmosphäre noch unangenehmer.
Finn und Stella versteckten sich ob der vielen fremden Menschen hinter Leo, der noch weniger begeistert aussah als Balu – was zu diesem Zeitpunkt schon eine Leistung war.
„Wer sind die?", fragte er und deutete auf die Neuankömmlinge.
„Der Rest unserer Familie", antwortete Rotkehlchen. „Du wirst wohl oder übel mit ihnen auskommen müssen, Leo."
Sie seufzte und sah dann Lilli und die anderen an.
„Ich hasse es, das zu tun, aber bitte sagt mir, dass ihr etwas zu essen dabei habt", meinte sie. „Unser Proviant hat sich etwas ausgedünnt ..."
„Haben wir", erwiderte Leanda. „Zumindest ein bisschen was, der Großteil fiel leider dieser Horde zum Opfer."
„Über die wir auch noch reden sollten", sagte Balu. „Was zum Henker euch da geritten hat, zum Beispiel."
„Sehnsucht und Verzweiflung", antwortete Florian. „Wir dachten, das Risiko könnten wir eingehen. Dort, wo wir herkommen, gab es nicht so viele von diesen Dingern, wir konnten leider kaum Erfahrungen sammeln."
„Darüber können wir später reden", sagte Kilian, dem es gar nicht gefiel, dass Balu seinen Bruder so in die Ecke drängte. „Lasst uns erst mal Essen machen und dann können wir Geschichten austauschen."
„Ich mach das", sagten Emma und Fabian gleichzeitig. „Ihr habt bestimmt einiges zu bereden", fügte Fabian hinzu. „So ... unter vier Augen."
Balu schnappte sich die Kinder und begann, mit ihnen nach Lebensmitteln oder anderen nützlichen Dingen zu suchen, Leanda beschloss, ihm zu folgen.
Viktor und Vera folgten Emma und Fabian in die Küche. Zurück blieben Kilian, Florian, Rotkehlchen und Lilli, die sich jetzt in verschiedene Ecken des Zimmers setzten.
Rotkehlchen wusste nicht, wie sie anfangen sollte, es lag ihr so viel auf der Zunge, dass sie fürchtete, nur Kauderwelsch zu produzieren, wenn sie den Mund aufmachte.
Lilli sah ihre Freundin nur an und breitete die Arme aus. Sie war selbst nicht sicher, was sie sagen sollte und dachte, eine Umarmung sei am einfachsten.
Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass Rotkehlchen ihr heulend in die Arme fiel – so etwas war normalerweise für sie, Lilli, reserviert.
„Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe", brachte Rotkehlchen hervor. „Ich weiß, ich habe damals noch so große Töne gespuckt ... und jetzt ... habe ich so lange gebraucht, um überhaupt aufzubrechen ... es tut mir leid, Lilli ... kannst du mir verzeihen?"
Lilli strich ihrer Freundin über den Rücken.
„Natürlich", sagte sie. „Ehrlich gesagt ... ich hatte ohnehin nicht gedacht, dass du kommen würdest. Einfach, weil es zu gefährlich wäre. Du bestimmt genug mit dir selbst zu tun hättest. Wären meine Eltern nicht ..." Sie brach ab und schluckte die Tränen herunter, die gerade aufkamen. „Ich dachte, egal, wo ich bin ... ich überlebe ohnehin nicht lange. Du warst mein Einhorn, als ich ganz alleine war ... einfach die Hoffnung, dass du dich vielleicht doch auf die Suche machst ... dass du noch lebst ... und jetzt ..."
„Sind wir wirklich wieder zusammen", sagte Rotkehlchen, als auch bei Lilli die Tränen flossen.
Kilian und Florian lagen sich ebenfalls in den Armen. Rotkehlchen dachte an ihre Mutter, die Kilian hatte erlösen müssen und hoffte, dass Florian ihm das verzeihen konnte.
„Ja", schniefte Lilli und lächelte. „Und du bist wirklich ein Einhorn ... du hast Florians Bruder gefunden."
„Und du hast Kilians Bruder gefunden", entgegnete Rotkehlchen. „Wir sind beide Einhörner."
„Du mehr", beharrte Lilli. „Bestimmt hast du an alles mögliche gedacht, was mir nicht mal im Traum eingefallen ist."
„Wir werden sehen", meinte Rotkehlchen. „Auf jeden Fall ... haben wir jetzt wohl eine Gruppe, oder nicht? Falls wir alle zusammen bleiben ... aber darüber können wir morgen reden. Kannst du mir verraten, was es mit Leanda auf sich hat? Ist sie ein Cyborg? Oder warum sieht sie so perfekt aus?"
„Das habe ich mich auch schon gefragt", meinte Lilli und wischte sich über die Augen. „Aber sie ist verdammt cool!"
„Das glaube ich ... ach ja. Einer unserer Jungs heißt Leo ... also habe ich der Einfachheit halber beschlossen, dass ich Rotkehlchen bin, sobald er dabei ist. Nur, damit du bescheid weißt ... und jetzt erzähl mal, wie du an Kilians Bruder geraten bist ... oder nein. Lieber nicht, ich möchte wissen, ob Balu wirklich prophetische Qualitäten hat. Er hat vor ein paar Tagen angefangen, uns eine Geschichte zu erzählen", erklärte sie auf Lillis fragenden Blick hin. „Nun ... und ein bisschen was daraus hat sich bewahrheitet. Uns sind zwei Pferde zugelaufen, zum Beispiel."
„Die Geschichte würde ich auch gerne hören", stimmte Lilli zu.
In dem Moment kamen Fabian und Emma aus der Küche, in den Händen jeweils ein Tablett mit geöffneten Dosen.
„Zur Feier des Tages dachten wir, dass jeder mal satt werden sollte", sagte Fabian. „Wo sind mein Bruder und die Kinder?"
„Oben", sagte Lilli und stand auf. „Ich gehe sie gerade holen."
Rotkehlchen schob ein paar Kleinmöbel zur Seite, damit sie genug Platz auf dem Boden hatten, Florian und Kilian halfen ihr, sobald sie gemerkt hatten, dass das Zimmer sich füllte.
Sobald sie vollzählig waren, herrschte wieder ein angespanntes Schweigen in der Gruppe. Emma und Fabian schienen sich beim Essen machen gut verstanden zu haben, aber auch ihnen schlug die Stimmung aufs Gemüt.
Rotkehlchen war drauf und dran, einige Kennenlernspiele vorzuschlagen, aber sie ahnte, dass es die Situation nicht besser gemacht hätte. Sie mussten sich eben erstmal beschnuppern ... oder getrennte Wege gehen, sobald sie wieder etwas zu essen gefunden hatten.
„Also", begann Florian, der unbedingt eine Unterhaltung in Gang setzen wollte, „was machen wir jetzt?"
„Wie, was machen wir jetzt?", fragte Balu verwirrt. „Wir essen ... dachte ich zumindest."
„Was machen wir jetzt, wo wir unser Ziel erreicht haben?", präzisierte Florian. „Rotkehlchen hat Lilli wieder, ich meinen Bruder. Um es kurz zu machen: Wollt ihr alle zusammenbleiben oder geht jetzt jeder seine eigenen Wege?"
Rotkehlchen ließ ihre Gabel sinken und schaute auf ihre halb leere Dose.
Ja, wie sollte es jetzt weitergehen? Kilian war wieder mit Florian zusammen, ihre Aufgabe war damit erfüllt. Allerdings konnte sie nicht abstreiten, dass es ungewohnt sein würde, Kilian nicht mehr an ihrer Seite zu wissen, selbst, wenn Balu und Fabian sich entscheiden sollten, sie wohin auch immer zu begleiten.
Und was war mit den Kindern, zu denen sie ganz dreist auch Viktor und Vera zählte, die sich irgendwo in ihren letzten Teenager-Jahren befanden?
Eigentlich wäre es am besten, sie nicht zu trennen, aber konnte man das wirklich zwei oder drei Personen antun?

Wecke nicht die Toten: Band 1Où les histoires vivent. Découvrez maintenant