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„Ja", antwortete er. „Irgendwas wird sich schon finden."
Wobei Balu sich dessen überhaupt nicht sicher war, ebensowenig wie Gänschen. Aber mehr als Abwarten konnten sie jetzt nicht mehr tun.
„Wir könnten violette Stoffe suchen und eine Spur auslegen", fiel Gänschen da ein. „Lilli weiß, dass es meine Lieblingsfarbe ist. Wenn wir uns trennen, können wir in mehreren Richtungen eine auslegen, die sie hierher führt. Was meinst du?"
„Einer von uns sollte hier bleiben", antwortete Balu. „Für den Fall, dass sie uns so finden. Aber sonst ..." Er seufzte. „Einen besseren Plan habe ich auch nicht und irgendwas müssen wir tun. Also von mir aus."
„Also auch keine getrennte Tour heute, oder?"
„Ja", sagte er. „Ich reite los, nehme eins der Pferde als Packpferd mit und du ... kannst dir einen gemütlichen Tag machen."
Sie streckte ihm die Zunge raus.
„Gemütlicher Tag, also wirklich ... nicht, solange die Viecher da sind und ich nicht weiß, wo wir morgen sein werden. Aber gut, ich bleibe hier und hoffe, dass Lilli oder Fabian oder wer auch immer hier auftaucht. Und dass sie uns zu einem sicheren Unterschlupf bringen können."
„Pass auf dich auf", sagte Balu und nahm Gänschen in die Arme. „Lass dich nicht entführen, fressen oder sonst was, okay?"
„Versprochen", antwortete sie. „Du dich auch nicht. Und verlauf dich nicht und sei vor Einbruch der Dunkelheit wieder hier."
„Ich gebe mein Bestes."
Er drückte seine Freundin noch einmal kurz an sich, bevor er sich auf den Weg machte.
Gänschen bezog ihren Posten und stellte sich auf einen langen, zermürbenden Tag ein. Sie hatte nicht einmal ein Buch, mit dem sie sich die Zeit vertreiben konnte, alles, was ihr blieb, war, möglichst unsichtbar zu bleiben und die Gegend im Auge zu behalten.
Wo Lilli und Kilian wohl gerade waren? Ob sie noch lebten? So gern sie Balu mochte, sie wollte nicht den Rest ihres Lebens allein mit ihm verbringen. Sie vermisste ihre Freunde, vor allem Lilli, jetzt, wo sie sich endlich gefunden hatten.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. War Balu etwa schon wieder da?
Gänschen lauschte.
Nein, das war nicht Balu, er würde nicht so zögerlich anklopfen.
Gänschens erster Impuls war es, die Tür zu öffnen, aber sie besann sich noch rechtzeitig. Diese Dinger waren intelligent, es war nicht auszuschließen, dass sie sie in eine Falle locken wollten.
„Leo?", hörte sie jemanden sagen. „Bist du da drin?"
Gänschen erstarrte. Das war nicht möglich. Es konnte nicht sein.
„Leo?", wiederholte die Stimme. „Lass mich rein, bitte. Ich habe dich überall gesucht und die Wesen könnten jeden Moment auftauchen. Lass mich rein."
Die Stimme ihrer Mutter. Konnte sie das wirklich sein?
Gänschen kämpfte mit sich, alles in ihr sträubte sich dagegen, die Tür zu öffnen, gleichzeitig aber auch dagegen, es nicht zu tun. Nicht, wenn die Chance bestand, dass dort draußen wirklich ihre Mutter war.
„Lass mich rein."
Es war unmöglich.
„Lass mich rein."
Oder doch nicht?
„Lass mich rein."
Was, wenn es eins der Wesen war, das versuchte, sie in die Finger zu bekommen? Wieso wiederholte ihre Mutter immer nur „Lass mich rein"?
Das Klopfen wurde lauter, bis es fast zu einem Hämmern wurde.
„Lass mich rein! Lass mich rein! LASS MICH REIN!"
Gänschen wich zurück. Das da draußen war nicht ihre Mutter, ganz bestimmt nicht. Die Stimme war nur eine Imitation, das hörte sie jetzt ganz deutlich.
Die Wesen konnten sprechen. Und noch irgendwas anderes, ihre Gedanken anzapfen vielleicht. Wie sonst hätte das Wesen herausfinden sollen, wie die Stimme von Gänschens Mutter klang?
Ihr Mut schwand dahin.
Wie konnten sie in dieser Welt überleben, wenn diese Dinger ihnen so haushoch überlegen waren? Sie in perfide Fallen locken konnten?
Waren Lilli und die anderen vielleicht dieser Masche zum Opfer gefallen? Hatten sie die Tür geöffnet, in der Erwartung, sie und Balu zu sehen, und waren dann überrannt worden?
Gänschen presste sich die Hände auf die Ohren, um die Schreie des Wesens nicht mehr hören zu müssen, aber es half nichts, die Stimme hallte unerbittlich in ihrem Kopf nach. Doch sie wusste, wenn sie jetzt die Tür öffnete, um das Ding zu töten, unterschrieb sie ihr eigenes Todesurteil. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass dort nur ein Wesen wartete. Dazu waren sie zu intelligent.
Hoffentlich kam Balu bald wieder. Hoffentlich hielt die Tür. Hoffentlich war das alles nur ein Traum.
Diese drei Sätze wiederholte Gänschen immer und immer wieder.
Ohne, dass sie es bemerkt hatte, hatte sie die Augen geschlossen und ihre Umgebung ausgeblendet, wie lange, konnste sie später selbst nicht mehr sagen.
Als sie etwas an den Schultern packte, begann sie zu schreien und um sich zu schlagen, doch die Hände ließen sie nicht los, sondern schüttelten sie nur.
Gänschen öffnete die Augen und sah Balu vor sich stehen, über und über mit Blut bedeckt.
„Geht's wieder?", fragte er, als Rotkehlchen sich langsam beruhigte.
„Ich ... ja", sagte sie. „Geht es dir gut? Bist du verletzt? Hat dich eins der Dinger erwischt?"
Sie rutschte von Balu weg, zu groß war ihre Angst, dass er sich in den nächsten Minuten in eins der Wesen verwandeln könnte.
„Nein", sagte er. „Ich musste mir allerdings den Weg hierher freikämpfen. Irgendwas hat sie angelockt und sie ließen sich partout nicht ablenken.
„Meine Mutter", murmelte Gänschen und wandte den Blick ab. „Irgendwie haben sie die Stimme meiner Mutter nachgeahmt. Eins der Dinger klopfte an die Tür und sagte immer wieder „Lass mich rein" ... aber ich hab's nicht getan."
Balu wollte sie schon in die Arme nehmen, doch dann wurde ihm klar, wie er aussah und wollte das seiner Freundin nicht antun.
„Wir sollten weg von hier", sagte er stattdessen. „Wenn sie schon hier vor der Tür standen, wissen sie, wo wir sind. Ich weiß nicht, ob ich so eine Ansammlung noch mal kleinkriege."
„Was, wenn Lilli und die anderen auf diesen Trick reingefallen sind?", fragte Gänschen. „Was, wenn sie überwältigt wurden?"
„Sowas will ich gar nicht erst hören", sagte Balu. „Ich glaube nicht, dass Fabian oder Kilian darauf hereinfallen würden. Leanda auch nicht. Und jetzt komm. Sehen wir zu, dass wir die Biege machen."
Gänschen rappelte sich auf und folgte Balu nach draußen, ohne auf die Körper am Boden zu achten. Sie wollte nicht sehen, ob nicht vielleicht doch ihre Mutter dazwischen lag.
„Wo wollen wir hin?", fragte sie. „Hast du einen Hinweis auf Lilli und die anderen gefunden?"
„Nein", sagte Balu. „Und wohin ... keine Ahnung. Hauptsache, weg von hier. Diese Dinger da, die waren anders als die, die wir bisher gesehen haben. Irgendwie gruseliger."
„Klar, wenn sie Stimmen imitieren können", murmelte Gänschen. „Ich hatte nicht erwartet, dass es sie irgendwie freundlicher macht."
Sie folgte Balu zu den Pferden und saß auf. Je schneller sie von hier wegkamen, desto besser, auch wenn das vielleicht bedeutete, die Nacht im Freien verbringen zu müssen. Alles war besser als das hier.

Wecke nicht die Toten: Band 1Where stories live. Discover now