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In Wollmütze und dicker Jacke trat ich in den Herbst. Es war definitiv zu kalt für meinen Arsch.
Wie kam es, dass alles nur so schön und trostlos zugleich sein konnte? Und doch liebte ich die Jahreszeit des Sturmes.
Keine Hitze, keine Labertaschen auf den Straßen mit ihren Hunden und genug mögliche Ausreden, um nicht rausgehen zu müssen und irgendwelche ‚Kontakte zu knüpfen'. Einfach nur Monate des Alleinseins und der Entspannung.
Jedoch gab es eine Sache, die sich selbst mit einem scheiß Wetter nicht vermieden ließ. Verpflichtungen.
Und was gehörte zu solchen Verpflichtungen, auch wenn es vollkommener Humbug war, der keinem etwas brachte als Selbstmordgedanken und die Unlust irgendetwas mit seinem Leben anzufangen?
Schule zum Beispiel. Ja, das passte meiner Meinung nach sehr gut zu einer solchen Kategorie. Ein angezwungenes Programm, dass absolut jedem die Kindheit raubte. Außer vielleicht Menschen, wie Merthy. Leute, die sich so sehr in die Schule reinsteigerten und die besten unter den Hunderten von Schülern sein wollten, indem sie jegliche Aufgaben, wie die des Schulsprechers übernahmen.
Solche würde ich nie verstehen können.

Ich wollte gar nicht zur Schule. Es war ein Ort nur gefüllt mit angeberischen Idioten mit einem Aufmerksamkeitsdefizit, der Ihnen bis zu dem Himmel reichte.
Desinteressiert starrte ich einen Haufen an gefärbter Blätter auf unserem Vordergarten an, die im Wind ihre Runden drehten. Alles und jeder konnte nur reden. Sie interessierte es nicht, was die anderen erzählten. Hauptsache, sie bekamen ihre gewollte Dosis an Aufmerksamkeit. Und es kotzte mich an. Einer der Gründe, wieso ich entschieden hatte, einfach zu den Stummen zu gehören.
Ich lehnte es so sehr ab, mir den Kram von anderen anzuhören oder gar von mir zu erzählen, dass ich inzwischen vollkommen in der Schule untergegangen war. Niemand kannte mich wirklich, bis auf's Aussehen. Jedes Mal, wenn der Name Heather Anerston aufgerufen wurde, kam keine Reaktion, keine Aktion. Kurz waren die Augen auf mich gerichtet, als sie auch schon desinteressiert abgewendet wurden, um sich ihren schwarzen Displays zuzuwenden, die ich gerne als Hexenspiegel bezeichnete, die einen manipulierten.

Müde seufzte ich und hob unberührt den Blick zu der Straße vor unserem Haus, die zu Haufenweise anderer Familienhäuser mündete.
Im Sommer war diese Straße lebhaft und wie aus einem Bilderbuch, doch nun war sie bedeckt in kalten Tönen, die durch den wolkenbedeckten Himmel entstanden und wirkte mit jedem Tag trostloser, desto kahler die Bäume wurden. Selbst die Eiche in unserem Garten, war inzwischen fast vollkommen blank. Und doch ließ sie mich durch ihre Vertrautheit wohl fühlen. Ich fand sie viel schöner in der Kälte, als voll geblüht in der Wärme. Sie wirkte....realer dadurch. Als würde sie ihr wahres Ich zeigen.
Innehaltend starrte ich den Baum an. Sag mal identifizierte ich mich nun ein ernstes mit einem verdammten Baum? Ich sollte wirklich zum Psychiater gehen, wie meine Mutter es gerne zu sagen pflegte.

Ihr Blick, als sie sah, dass ihre Stubenhockertochter tatsächlich das Haus verließ, war schon fast beleidigend, weil er so aus der Fassung aussah. Dabei konnte ich es ihr nicht übel nehmen. Ich konnte es selbst kaum fassen, dass ich auch noch in meinem kranken Zustand Lust auf einen Spaziergang bekommen hatte. Ich war nicht einmal aus unserem Garten getreten, da wusste ich, dass meine Muskeln sich durch die Kälte nicht mehr entspannen würden.
Ich würde sogar wetten, dass mich meine Eltern genau in diesem Moment beobachteten, weil sie schlichtweg zu neugierig waren, was ihre pubertierende Teenietochter denn plötzlich an einem Wochentag ohne Freunde vor hatte.
Zur Sicherstellung drehte ich mich schlapp wieder zum Haus, doch die Fenster hatten alle Spitzengardinen zugezogen und die Veranda wurde nicht betreten, um sich zur Tarnung um die ganzen Blumentöpfe zu kümmern, während sie mich beobachteten. Vielleicht war meine Familie ja doch nicht so eigenartig, wie ich immer zu denken hegte.

Aufgebend zuckte ich innerlich die Schultern und drehte mich erneut zur Straße, um diesmal wahrhaftig durch die ganzen Ladungen an toten Blättern hindurch zu stampfen und den Gehweg hinunter zu schlürfen, während ich zusammengekrümmt die Hände in den Polstertaschen meiner Jacke versteckt hielt.

Eines musste ich Schwänzern lassen: Sie hatten guten Grund dazu, wenn es zu jeder Zeit so leer war, wie während der Schulzeit. Ich konnte es kaum erwarten aus der Schule zu sein und dann endlich jeden Morgen genießen zu können, an dem alle Kinder an einem bestimmten Ort festgehalten werden.

In diesem Moment war es mir nur möglich, wenn ich mich krank meldete. Und obwohl ich das gerne hier und da einfach mal tat, war es diesmal begründet. Die letzten Tage wurde ich von Schnupfen, Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen geplagt, weshalb ich in diesem Moment einfach nur erleichtert war, dass es mir gut genug ging, um das Bett zu verlassen.
Übermorgen würde ich jedoch wieder zur Schule gezwungen werden, was meine miese Laune nicht unbedingt verbesserte.

Aber jetzt wollte ich daran nicht denken, um einfach den Spaziergang zum naheliegenden Feld / Wald zu genießen, in den niemand einen Fuß trat, weil es dort nichts gab und er obendrein nur schäbig aussah. Dünne kahle Bäume, vertrocknetes hohes Gras, dass sicherlich nur so geplagt war von irgendwelchen komischen Insekten und wenn es dort tatsächlich Grünzeug gab, dann nur an bestimmten Stellen und so aneinander gewachsen, dass man sich seinen Weg nicht durchbahnen konnte. Sonst bestand alles aus vertrocknetem Gras, dass sich über eine gewaltige Fläche erstreckte. Wenn ich mich nicht irrte, führte es irgendwann zu den Bergen einige Meilen weiter weg, die von niemanden besucht wurden.

Kein Wunder, dort wimmelte es sicherlich nur so von irgendwelchen Wildtieren, so wie womöglich in meinem abgelegenen Feld, aber interessierte es mich, von einem Bären zerfleischt zu werden? Nicht wirklich. Okay, vielleicht. Nur ein wenig. Aber auch nur, weil das eine schlimme Art wäre von dieser Welt zu flüchten. Ich konnte mich noch erinnern, wie in der örtlichen Zeitung von einer 56 jährigen berichtet wurde, die in unseren Bergen hinter dem Feld wandern war, nur um Tage darauf zerhack-würfelt gefunden zu werden. Anscheinend wurde nichts von ihr übrig gelassen, bis auf ihren Kopf und ihrer tätowierten Brust. Okay, selbst das war immens zerstört. Aber Fakt ist: Ich hatte bei diesem Wissen den massivsten Kälteschauer jemals bekommen und war von da an überzeugt, dass ich definitiv nicht so sterben wollte! Und eine leichte Phobie gegenüber Bären bekommen hatte, aber das war etwas, mit dem ich ein Glück nicht Tag täglich konfrontiert wurde. Wir waren hier immerhin nicht in Wisconsin.

Cold WinterWhere stories live. Discover now