Kapitel 2: Vollcrash ins Leben *1*

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„Oh là là!" Jamies Augen weiteten sich, als er Mariah erblickte. Auch der Lutscher, den er im Mund hatte, fiel ihm beinahe heraus. 

Alany klappte indes die Kinnlade herunter. Gerade war sie verschlafen aus Jamies Auto geklettert, um an der St. Mary's School ins neue Schuljahr zu starten und jetzt das. Entweder war ihre Cousine zu den Flittchen übergelaufen oder sie hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank.

 „Sag mal, spinnt die?" Jamie konnte nicht aufhören, Mariah anzustarren. Das aus Minirock und aufgeknöpfter Bluse bestehende Outfit, das Mariah aus ihrer Schuluniform gebastelt hatte, war nicht mehr als solche wahrzunehmen. Alany betete, dass Mariah ihre riesige Perlenkette nicht ablegte, denn der Ausschnitt darunter war deutlich zu provokant. Besonders für eine katholische Schule, in der eine sehr strenge Uniformpflicht galt. 

 „Schon peinlich, meine Schwester, nicht wahr?" Alex, der unvermittelt hinter Alany und Jamie aufgetaucht war, seufzte. „Sie sieht wie eine Nutte aus."

Jamie öffnete den Mund, wie um seinen frechen Neffen zurechtzuweisen, schloss ihn aber wieder. Alanys Meinung nach hatte Alex mit seiner wenig schmeichelhaften Formulierung recht: Mariah sah aus wie ein Flittchen. 

 „Was sagt Richard zum neuen Kleidungsstil deiner Schwester?", fragte Jamie schließlich. Man sah ihm an, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte. 

 „Ach, der!" Alex ließ sich auf einer kleinen Mauer nieder und spielte mit seiner Krawatte. „Mariah hat ihn ausgetrickst. Sie hat gewartet, bis er das Haus verlassen hat und sich anschließend umgestylt." Das letzte Wort zog Alex in die Länge und schnitt eine Grimasse. „Ihr hättet sehen sollen, was für große Augen der Busfahrer gemacht hat." 

„Da kommt die Schulleiterin!", fiel Alany ihm ins Wort und deutete auf die Treppe, die zur Eingangstür führte. 

„Jetzt geht's los! Ich kann es kaum abwarten zu sehen, wie viel Ärger Mariah bekommt!", freute sich Alex und klatschte in die Hände. 

Heather Clarington hatte wie jedes menschliche Wesen Augen im Kopf und nur deren Verlust hätte als Ausrede gegolten, den Pulk von Leuten, der sich um Mariah scharte, nicht zu entdecken. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb sie stehen, wohl um zu überlegen wie sie gemäß ihren Pflichten als Direktorin handeln sollte. Dann schritt sie zur Tat.

Zunächst schob sie zwei ungemütlich aussehende Schüler zur Seite, anschließend baute sie sich vor Mariah auf. „Mariah O'Callaghan!" Kleine Kunstpause. „Wissen Sie eigentlich wie sehr ich von Ihnen enttäuscht bin? Solch ein unangebrachtes Benehmen ist mir in meiner gesamten Zeit als Direktorin noch nicht untergekommen! Sie finden sich ohne Umschweife in meinem Büro ein! Und was den Rest von Ihnen betrifft"- Heather Clarington warf einen wütenden Blick auf die versammelte Menge- „begeben Sie sich sofort in den Unterricht!" 

Leider gestand Mariah es der Direktorin nicht zu, diesen Sieg als Autoritätsperson davonzutragen, weshalb sie sich auf der Türschwelle noch einmal umdrehte, um mit laszivem Blick einen Handkuss in die Menge zu werfen. Besonders die Jungen jubelten ihr zu. 

 „Oh nein!" Alany verbarg ihr Gesicht in den Händen, nachdem Mariah, gefolgt von der sichtlich erbosten Schulleiterin, im Gebäude verschwunden war. 

„Oh nein? Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts!", kommentierte Alex Alanys Reaktion, während er aufsprang und nach seiner Schultasche griff. „Ich kann mir schon ausmalen, welche Kommentare ich mir von heute an anhören werden darf. ‚Du bist doch der Bruder von der heißen Braut aus der elften?' ", äffte er einen seiner machohaften Klassenkameraden nach.

„Ich wette, sie hat nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass sie uns mit sich in den Dreck zieht."

„Das Phänomen ist nicht neu, Jugendliche rebellieren eben", schaltete sich nun Jamie ein, der bis jetzt seltsam still gewesen war. Anscheinend suchte er nach einer Erklärung für Mariahs Verhalten, klang jedoch nicht überzeugt. 

Auch Alany war verwirrt. Eitel war Mariah schon immer gewesen und auch zu ‚attraktiven' Outfits hatte sie nie nein gesagt, doch ihr Umstyling spielte in einer anderen Liga. Wollte sie lediglich ihre Grenzen austesten oder gab es andere Gründe für ihren Auftritt? 

 „Ich schätze, vollkommen durchzudrehen liegt einfach in unserer Familie!", beendete Alex mit einem Blick auf seine Armbanduhr die Diskussion und boxte Jamie zum Abschied mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Lauf deinem Cousin nach!", ermunterte Jamie Alany, nachdem Alex sich in Richtung der Haupttreppe gewandt hatte. „So schlimm wird's schon nicht werden. Du bist nicht dafür verantwortlich, wenn Mariah sich zum Affen macht."

Alany warf Alex einen kurzen Blick nach. „Ich mache mir Sorgen um Mariah. Sich so zu benehmen passt nicht zu ihr. Wenn ich bloß wüsste, wie ich helfen könnte! Ich kann nicht mitansehen, wie sie ihren kompletten Ruf ruiniert." 

 „Zerbrich dir nicht den Kopf, Lenny.Wir müssen aufpassen, dass nicht eines Tages Schlimmeres passiert, aber Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Wahrscheinlich kriegt sich Mariah bald wieder ein. Und selbst wenn nicht," fuhr Jamie mit einem Blick auf ihr zweifelndes Gesicht fort, „werden wir eine Möglichkeit finden, zu verhindern, dass sie zu Raubtierfutter wird."  Jamie lächelte Alany zu und verabschiedete sich mit einer Umarmung. Dann drehte er sich um und steuerte auf seinen Wagen zu. 

 Mit einem unguten Gefühl im Magen machte Alany sich auf dem Weg zu ihrem Klassenzimmer. Da sie spät dran war, sprintete sie die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Beinahe wäre sie mit Mrs. Angerer zusammengestoßen, wenn die Biologielehrerin sich nicht im letzten Moment an die Wand gedrückt hätte. 

 Als Alany geschätzte dreißig Sekunden bevor der Gong den Beginn der ersten Unterrichtsstunde ankündigte, am Klassenzimmer ankam, hatte sie einen knallroten Kopf und schnaufte wie eine Lokomotive. Am liebsten hätte sie sich an die Wand gelehnt, um durchzuatmen, doch Mr. Belafonte hielt auffordernd die Zimmertür für sie auf.                            

„Danke!", brachte Alany keuchend hervor und rettete sich an ihren Fensterplatz in der dritten Reihe.

„Neues Schuljahr, neues Glück!", rief Mr. Belafonte gut gelaunt zur Begrüßung und riss ein Fenster auf, um die frische Morgenluft hereinzulassen. Kein anderer Lehrer schaffte es, seinen Dienst in der Schule nach den Sommerferien mit einem vergleichbaren Enthusiasmus anzutreten.

„Was habt ihr in den Ferien unternommen? Alany?"

Alany hätte darauf wetten können, dass ihr Geographielehrer sich zuerst nach ihren Ferien erkundigte, denn sie war Mr. Belafontes absolute Lieblingsschülerin.

„Mein Vater und ich sind umgezogen", antwortete sie knapp und hoffte, dass ihr Lehrer rasch einen ihrer Mitschüler über seine Ferien ausquetschen würde.

Zu spät: Die Klasse hatte bei den Worten ‚mein Vater' bereits zu kichern angefangen. Obwohl Alany es nie herum posaunt hatte, wusste der Großteil ihrer Jahrgangsstufe, dass ihre Eltern bei ihrer Geburt minderjährig gewesen waren. Die Fieslinge in ihrer Klasse hatten oft über sie gelacht, weil Jamie und sie bisher bei ihrem Onkel gewohnt hatten. Außerdem machten sie gerne anzügliche Witze über Teenagerschwangerschaften.

Alberne Kindergartenkinder. Kümmerte sie sich etwa darum, dass deren Eltern Alkoholiker waren oder anderweitig Dreck am Stecken hatten? Nur weil ihr Vater nicht am Krückstock gegangen war, als sie geboren wurde, hatten die anderen kein Recht, über ihn zu urteilen. Alany hatte das Affentheater um das Alter ihres Vaters satt.

„Meine Damen und Herren, ich darf doch sehr bitten!" Mr. Belafonte klopfte mit seinem Zeigestab auf den Tisch. „Sie sollten Mr. O'Callaghan dafür bewundern, was für ein gut erzogenes und fleißiges Mädchen aus seiner Tochter geworden ist! Etwas, das einige Ihrer Eltern gründlich vergeigt haben." Er zwinkerte Alany kumpelhaft zu und sie wäre ihm vor Dankbarkeit am liebsten um den Hals gefallen.

Abgesehen davon, dass Mr. Belafonte John Crawford erklärte, dass er sich aufrichtig für ihn schäme, da er nicht einmal das Mittelmeer vom Toten Meer unterscheiden konnte, verlief die Geographiestunde ereignislos. Alany jubelte innerlich, als es endlich zur Pause läutete.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now