Die gordischen Knoten platzen *2*

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Jamie blickte auf seine Hände hinab. Anscheinend hatte er gehofft, genau diese Frage würde nicht fallen. Als Alany sich bereits damit abgefunden hatte, dass ihr Vater ihr keine Antwort geben würde, hob er seinen Kopf. „Ich erwarte nicht von dir, die Entscheidung deiner Mutter zu verstehen. Selbst ich verstehe sie immer noch nicht ganz. Sei wütend, wenn du willst, Lenny, denn du hast allen Grund dazu. Allerdings würdest du Joannas Reaktion vermutlich besser nachvollziehen können, wenn du sie gekannt hättest. Johanna war wie ein freiheitsliebender Vogel, der nur durch seinen inneren Kompass geleitet durch die Lüfte schwebte. Nach deiner Geburt fühlte sie sich, als ob man sie in einen Käfig gesteckt hatte. Sie fragte sich oft, wie es möglich war, dass sich die Welt in den neun Monaten, die seit unserer leichtsinnigen Aktion vergangen waren, komplett gedreht hatte. Früher war sie das beliebteste und begehrenswerteste Mädchen der ganzen Schule gewesen, und auf einmal riefen ihr ihre ehemaligen Freundinnen das Wort Schlampe hinterher. Selbst ihre Eltern, deren Unterstützung sie am nötigsten gebraucht hätte, haben sie im Stich gelassen. Wenn du mich fragst, konnten sie sich nicht damit abfinden, dass ihre perfekte Tochter, die trotz ihres feurigen Temperamentes bei den Lehrern beliebt war und nur Spitzennoten schrieb, zu einer Teenie-Mutter wurde."

„Das klingt traurig", murmelte Alany und glaubte zu spüren, wie sich einige Zahnrädchen in ihrem Kopf zu drehen begannen. Langsam verrauchte die stille Wut, die sich in ihr seit einiger Zeit über Joanna Angel angestaut hatte. Die Situation, in der sich ihre Mutter befunden hatte, war komplizierter gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte. „Ich habe also Moms ganze Welt zertrümmert?" Alany traute sich kaum, diese Frage zu stellen und ihre Stimme zitterte, als sie es schließlich tat. Ihr fiel auf, dass sie Joanna Engel soeben Mom genannt hatte.

„Sag das nicht, Lenny." Jamie legte ihr einen Arm um die Schulter. „Du musst dir keinerlei Vorwürfe machen, weil Joanna genauso an der ganzen Geschichte Schuld war wie ich. Es hätte uns beiden gut getan, unsere Hirnkästen einzuschalten, bevor wir, naja, du weißt schon."

Jamie starrte verlegen in die Leere, als ob er sich fragte, ob das Gespräch in für fünfzehnjährige Töchter unangebrachte Themengebiete abzurutschen drohte.

„Schon OK", winkte Alany ab, doch sie spürte, dass sie rot anlief. „Es tut mir leid, dass ich Joannas Leben so sehr verändert habe."

Jamie seufzte. „Ich wünschte, du würdest aufhören, dich zu entschuldigen, doch leider hast du Recht. Joanna hatte sich daran gewöhnt, tun und lassen zu können, was sie wollte und damit war nach deiner Geburt Schluss. Wickeln, Baden, Füttern, wenig Schlaf. Joanna hat dich vom ersten Augenblick an geliebt, aber sie konnte sich nicht an den streng durchstrukturierten Alltag, den die Erziehung eines Babys mit sich bringt, gewöhnen. Schließlich war sie wie ich bei deiner Geburt erst siebzehn und hatte noch nicht einmal ihren Schulabschluss gemacht. Joanna wollte die Welt entdecken, Risiken eingehen, alles Mögliche ausprobieren und ihre jugendliche Unabhängigkeit in vollen Zügen genießen. Zunächst war ich überzeugt, dass wir unsere Leben gemeinsam wieder in den Griff bekommen würden, doch stattdessen haben wir uns immer mehr entfremdet. Nach einiger Zeit hat sich Joanna geweigert, weiterhin mit mir zusammen zu sein und zum Reden hatte sie erst recht keine Lust. Das Band zwischen uns war gerissen."

Sichtlich aufgebracht strich Jamie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Deine Mutter war schon immer kompliziert, doch wir hatten nie Geheimnisse voreinander und ich hätte mein Leben darauf gewettet, dass sie sich mir anvertraut, bevor sie das Weite sucht. Pustekuchen, denn eines Tages war sie einfach weg. Kein Brief, kein Anruf, kein Abschied, nichts." 

Alany konnte den Schmerz in der Stimme ihres Vaters hören und ließ traurig den Kopf hängen. „Ich schäme mich dafür, dass meine Mutter dir das Herz gebrochen hat", murmelte sie und nun war sie es, die ihre Arme um Jamie schlang. 

Jamie schluckte heftig. „Ich verstehe, dass Joanna ihre Jugend genießen und neu anfangen wollte, aber..."Jamie sah Alany in die Augen. „Es war weder dir noch mir gegenüber fair. Immerhin befanden Joanna und ich uns in der gleichen Situation. Manchmal frage ich mich, ob sie je darüber nachgedacht hat, wie es für mich war, meinen Ruf als coolster Jugendlicher Nord- Nottinghams zu verlieren. Die hässlichen Kommentare unserer Mitschüler sind an mir genauso wenig abgeprallt wie an ihr. Ich war stets davon überzeugt, eine harte Schale zu haben und mit allem fertig zu werden, doch ich lag falsch. Außerdem hatte ich ebenfalls noch ein Jahr Schule abzuleisten und wurde obendrein von Nachbarn und Bekannten mit der Frage gelöchert, wie ich denn meine Familie ernähren wolle und warum ich mir nicht schleunigst einen Job suchte. Zusätzlich hatte ich mit den Anschuldigen fertig zu werden, ein unschuldiges Mädchen in den Abgrund gestürzt zu haben und eine Schande für meine Eltern zu sein. Ich hätte auch liebend gerne alles hingeschmissen und mich auf Partys herumgetrieben, doch ich habe mich dazu entschieden, zu meiner Verantwortung zu stehen." Jamie ließ seinen Blick sichtlich nachdenklich über den Wald und die Seen in der Ferne gleiten.

„Dad?"

„Ja, Lenny?"

„Ich bin stolz auf dich. Nicht jeder Teenager hätte neben Schule und Studium ein Kind großziehen können. Ich weiß es zu schätzen, dass du für mich auf all die tollen Feiern und den ganzen Spaß verzichtet hast."

„Keine Sorge, ich habe die Nächte durchgefeiert, lediglich auf andere Weise. Du warst eins der hartnäckigen Babys, die nie aufhören zu schreien", erwiderte Jamie auf die für ihn so typisch lockere Art.

Eine Weile lang sahen Alany und er sich schweigend an und Alany schätzte sich glücklich, einen so aufopferungsvollen Vater zu haben.

„Joanna ist gegangen, ohne sich zu verabschieden?", fragte Alany nach einer Weile vorsichtig nach. „Aber wieso?"

„Das weiß nur sie allein", antwortete ihr Vater. „Nicht einmal ihren Eltern hatte sie Bescheid gesagt. Allerdings hatten die schon seit deiner Geburt den Kontakt zu ihr abgebrochen. Joanna stammte aus einer konservativen Akademikerfamilie, in der eine Teenagerschwangerschaft als unverzeihliche Sünde galt."

Alany konnte sich nicht entscheiden, ob sie wütend auf ihre Mutter sein sollte, weil sie sie verlassen hatte, oder ob sie Mitleid empfinden sollte, weil Joanna von ihren eigenen Eltern im Stich gelassen worden war. „Deshalb habe ich meine mütterlichen Großeltern nie gesehen", folgerte Alany und verdrängte ein paar Tränen. Es war hart zu akzeptieren, dass sie für einen Teil ihrer Familie unerwünscht war.

Jamie nickte langsam. „Ich werde es den Eltern deiner Mutter nie verzeihen, dass sie dich verleugnen. Erinnere dich lieber an Grandpa Ronnie und Granny Sofie und daran, wie sehr sie dich geliebt haben."

Der Gedanke an ihre Großeltern heiterte Alany wieder auf und zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Grandpa Ronnie und Granny Sofie hatten sie abgöttisch geliebt und wie einen besonderen Schatz gehütet. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie ihre Großeltern und sich auf dem Spielplatz toben sehen und ausgelassen jauchzen hören. Ein paar Monate nach ihrem dritten Geburtstag waren Ronnie und Sofie leider kurz nacheinander an Krebs gestorben und obwohl Alany zu klein gewesen war, um alles zu begreifen, konnte sie sich daran erinnern, bitterlich geweint zu haben.

„Zuerst waren sie enttäuscht und wütend, doch nach deiner Geburt haben sie mich sehr unterstützt", erklärte Jamie und sah zum Himmel hinauf. „Außerdem haben sie Richard in die Welt gesetzt, der in all den Jahren zusammen mit Caroline unsere größte Hilfe war."

„Wir können dankbar für unsere Familie sein", bestätigte Alany und spürte, wie ihr leichter ums Herz wurde.

„Das können wir wirklich."

Mittlerweile hatte der Wind zugenommen und aus der leichten Brise war ein kleiner Sturm geworden. Alany spielte bereits mit dem Gedanken, vom Gartenhausdach herunterzuklettern, als ihr eine letzte wichtige Frage einfiel.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now