Auf dem Gartenhausdach *2*

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„Das war aber eine lange Auszeit!", zog Jamie Alany auf, als er geschätzte drei Stunden später ins Wohnzimmer spazierte. Er warf seine Arbeitshandschuhe mit Schwung auf die Couch und setzte sich neben Alany. „Sollte ich mir Sorgen machen?"

„Nein, Dad."  Alany schaltete den Fernseher aus. „Ich muss nur viel nachdenken."

Ihr Vater nickte. „Letztes Jahr ist außer dem Vorfall mit dem wilden Hasen, der Tante Carolines Blumenbeete leergemäht hat, nichts passiert, aber seit den Sommerferien geht alles drunter und drüber."

Als Alany Jamie direkt ansah, bemerkte sie ein spitzbübisches Lächeln auf seinen Lippen. „Was?", lachte sie und boxte ihn in die Seite.

„Na, der Kuss", erwiderte Jamie, wobei er so sensationshungrig wie ein Klatschreporter klang. „Erzähl schon, ich brauche Details!"

Und Alany erzählte. Sie erwähnte den See, die Sonnenblume, die Milan ihr gebracht hatte, und allerlei Kleinigkeiten. Wie sanft seine Lippen die ihren berührt hatten und wie schummrig sie sich gefühlt hatte, seinen Körper so nah an ihrem zu spüren, behielt sie allerdings für sich. Es gab schließlich Dinge, die nicht für die Ohren ihres Vater bestimmt waren. Als sie geendet hatte, kam sie sich vor wie in einem déjà- vu. In ihrer Lieblingsserie Gilmore Girls hatte sich die gleiche Szene abgespielt, nur dass Rory ihrer Mutter und nicht ihrem Vater von ihrem ersten Kuss erzählt hatte.

Allerdings hatte die Situation im Film passender gewirkt, denn eine Mutter und Tochter beim gemeinsamen Tratschen über Jungs zu sehen erschien Alany als das richtigere Szenario. Als Mädchen mit seinem Vater über den ersten Kuss zu reden kam ihr falsch vor, so als hätte man die Filmrollen verwechselt und aus Versehen die falsche eingelegt. Für einen Augenblick übernahmen in ihrem Kopf ihre Mutter und sie selbst die Rollen der Gilmore Girls. Obwohl sie sich dagegen sträubte, musste Alany zugeben, dass ihr die Vorstellung, mit ihrer Mutter im Schneidersitz auf dem Bett zu sitzen und über Milan zu sprechen, gefiel. „Quatsch! Das ist völliger Blödsinn!" Schnell verdrängte sie das Bild wieder. Schließlich wusste sie nicht, wie ihre Mutter inzwischen aussah. Auf den Bildern, die Jamie ihr von Joanna Angel gezeigt hatte, war ein Teenager und keine erwachsene Frau zu sehen gewesen. Ein hübsches Mädchen mit blonden Locken, das ein wenig selbstverliebt wirkte.

„Ich sollte das Wort Mutter nicht einmal denken", dachte Alany und kämpfte vergeblich gegen die Tränen an. „Joanna Angel hat mich vor fünfzehn Jahren im Stich gelassen, also werde ich ihr nie von Milan erzählen können. Nie!" Die Vision von ihrer Mutter und ihr als glücklichem Team war trügerisch, da sie mit Johanna nie das besondere Band teilen würde, das so viele Mütter und Töchter verband. Alany hatte ihre Mutter weder als Baby noch als Kleinkind oder Kind kennengelernt und wahrscheinlich würde sie ihre Mutter auch als Teenager nicht zu Gesicht bekommen. Die Erleichterung, dass Jamie endlich über Milan und sie Bescheid wusste, wich Traurigkeit. Die ganzen letzten Jahre hatte Alany es geleugnet und sich geweigert, es zuzugeben, doch nun war es an der Zeit, sich nicht länger etwas vorzumachen: Sie vermisste ihre Mutter. Die kümmerte sich nicht um sie und Alany hasste sie dafür. Nichtsdestotrotz sagte ihr Unterbewusstsein ihr, dass sie ihre Mutter liebte. „Besonders in der Pubertät ist eine stabile Mutter- Tochter- Bindung von äußerster Bedeutung", hatte Alany einmal in einem Zeitungsartikel gelesen. Für ihre Zeit als Teenager würde dieser Grundsatz jedoch nicht gelten, da sie ohne Joanna Angel erwachsen werden musste.

Jamie stellte keine Fragen, als Alany zu weinen anfing. Stattdessen nahm er sie in den Arm und drückte sie so fest an sich, als würde er sie nie wieder loslassen wollen.

„Das ist der Vorteil an Vätern", dachte Alany, als sie ihr feuchtes Gesicht in Jamies altes Karohemd presste. „Sie quatschen dich nicht voll, sondern nehmen dich in den Arm."

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now