Liebe ist wie Bungeejumping *4*

9 2 0
                                    

Am nächsten Morgen erwachte Alany mit dem „I love you"- Kissen in ihren Armen und Muskelkater. Kein Wunder, denn sie lag verdreht auf ihrem Bett. Die Kerzen waren alle ausgeblasen worden und Alany hätte sich aufgrund ihrer Fahrlässigkeit, dies am Abend zuvor vergessen zu haben, am liebsten geohrfeigt. Manchmal hatte es seine guten Seiten, dass Jamie darauf bestand, jeden Abend nach ihr zu sehen, bevor er selbst zu Bett ging. 

Alany war sich sicher, dass ihr Vater ihr am Frühstückstisch eine Moralpredigt zum Thema Zündeln halten würde. Aus diesem Grund trödelte sie beim Anziehen, bis sie Jamie im Badezimmer verschwinden hörte. Normalerweise achtete sie nicht besonders auf ihre Kleidung und griff sich die Klamotten, die gerade in Reichweite waren, doch heute hatte sie sich Mühe gegeben. Anstatt der üblichen Jeans und des Schlabberpullis hatte sie sich für einen schwarzen Samtrock mit passenden Stiefeln und eine hellblaue Bluse entschieden. Kurz gesagt für die Kleidungsstücke, die dreihundertsechzig Tage im Jahr im Schrank vor sich hin staubten und ihn nur zu Weihnachten, Sylvester und Ostern verlassen durften. Außerdem trug Alany ein wenig pinken Lipgloss und Eyeliner auf. Eigentlich sträubte sich alles in ihr dagegen, sich für einen Jungen zurechtzumachen, doch sie konnte nicht anders. 

Alany wollte vor Milan glänzen. Sie wusste zwar, dass er sie mochte, aber fand er sie auch hübsch genug? Natürlich hatte Alany sich auch vorher Gedanken über ihr Aussehen gemacht, doch sie hatte nie einen so großen Zirkus veranstaltet wie Mariah. Um ehrlich zu sein, hatte sie keine Ahnung, wie sie auf Jungen wirkte. Sie wurde nie von ihnen auf dem Gang angesprochen, man hielt ihr nicht die Tür auf und Komplimente erntete sie auch keine.

An diesem Tag änderte sich das allerdings. Alany bemerkte die Veränderung bereits im Schulbus, weil ein dürrer Lockenkopf nicht aufhörte, sie anzustarren. Außerdem tuschelte eine Gruppe Mädchen, als sie vorbeiging. Jede andere hätte sich wohl über die Aufmerksam gefreut, doch Alany war nicht wohl in ihrer Haut. Nachdem sie Biologie und Geographie überlebt hatte, obwohl Mr. Schulte beinahe ein Déjà- vu mit den entlaufenen Laborratten hatte (genau genommen waren es die Feldhamster, die diesmal einen Fluchtversuch gestartet hatten), machte Alany sich auf den Weg zur Bibliothek. In die Cafeteria traute sie sich nicht, da sie nicht auf Mariah angesprochen werden wollte. Die Nachricht, dass ihre Cousine mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus lag hatte sich ausgebreitet wie ein Lauffeuer.

An der Tür zur Bibliothek lehnte Philip Jenkins, der durchtrainierte Kapitän des Schwimmteams. „Wahrscheinlich wartet er auf eine seiner Freundinnen", dachte Alany verächtlich. Sie ignorierte ihn, doch Philipp tippte ihr auf die Schulter.

„Hi." Er schenkte ihr ein Lächeln, bei dem seine gebleichten Zähne bestens zum Vorschein kamen. Das Durchschnittsmädchen würde wahrscheinlich augenblicklich anfangen zu kreischen, da der angesagteste Junge der Schule ihr eine Sekunde seiner wertvollen Zeit geschenkt hatte. Philip war dunkelhaarig und hatte hohe Wangenknochen sowie massenweise Muskeln, was ihn zu einer beliebten Jagdbeute machte. Mariah war verrückt nach ihm, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. 

Bei Alany blitzte Philip mit seiner Charmoffensive ab. Ohne ihm zu antworten schlüpfte sie durch die Tür, zuckte jedoch zusammen, als er ihr nachpfiff. Alany verstand die Welt nicht mehr. Noch gestern hätte Philip Jenkins sie keines Blickes gewürdigt, und nun? Er  starrte ihr sogar durch die Tür hindurch nach und machte sich dabei zum Affen. Mariah hatte es trotz ihrer aufreizenden Kleidung nicht geschafft, Philips Interesse zu wecken. Sie selbst dagegen trug bloß ein wenig Make- up und schickere Kleidung und schon machte Philip ihr schöne Augen. Alany schüttelte den Kopf. Diese Welt war verrückt.

Philip konnte starren so viel er wollte, doch es war Milan, den Alany vor sich sah, als sie sich auf einen Stuhl in der Ecke setzte. Ihr Herz gehörte dem jungen Sanitäter, niemand anderem.

                                                                     *

Endlich klingelte es zur nächsten Unterrichtsstunde in Alanys Lieblingsfach "Kulturen der Welt". Im Unterricht hatte sie keine Zeit zum Träumen, denn Mrs. Schrumpernagel hatte einen Tisch mit Unmengen an Federn, Perlen und Holzringen für das Basteln indigener Traumfänger bereitgestellt. Zachy, der Alany im falschen Moment durch das Herausstrecken seiner Zunge signalisiert hatte, dass er sich in den Kindergarten zurückversetzt fühlte, wurde währenddessen von Mrs. Schrumpernagel zum Vorlesen von Geschichten der indigenen Völker Nordamerikas verdonnert.

Während der Rest der Klasse seinen Spaß daran hatte, mit den Federn und dem Leim zu experimentieren- zunächst hatten alle gezögert, doch schließlich hatten sie ihre Scham über Bord geworfen und waren nun eifrig am Werkeln- ratterte Zachy mit monotoner Stimme eine Geschichte nach der anderen herunter. ‚La Schrumpernagel', wie Alany sie nach ihrer Vorführung des Kokusnusstanzes getauft hatte, lies ihn unter anderem Legenden der kanadischen First Nation der Algonquins über Kichi-Odjig, einen Helden mit einer Tierseele, der Monster bekämpfte und Onimiki, einen Vogel, der mit jedem Flügelschlag Donnergrollen auslöste, vorlesen.

„Du warst im Unterricht auch nicht wirklich bei der Sache", murmelte Zachy Alany nach dem Unterricht zu, während er die hämischen Kommentare ihrer Klassenkameraden über seine zweite Strafaufgabe innerhalb zweier Wochen an sich abprallen ließ. Dann zwinkerte er ihr verschwörerisch zu und legte freundschaftlich den Arm um sie. „Wie heißt der Typ? Ich hoffe, es ist nicht Philip Jenkins, denn dann würden sich seine Bewunderinnen auf dich stürzen wie Hyänen."

Alany wurde rot. Benahm sie sich so offensichtlich, dass selbst Zachy, dem gegenüber sie Milan noch nie erwähnt hatte, den Braten roch? Hektisch suchte sie nach einer schnippischen Antwort, um Zachy abzuwimmeln, doch ihr fiel keine ein. 

„Hab' ich's mir doch gedacht", flüsterte Zachy Alany ins Ohr und setzte ein spitzbübisches Grinsen auf. „Niemand, der nicht bis über beide Ohren verliebt ist, hätte sich die Gelegenheit entgehen lassen, Photos von Mr. Schulte und dem tobenden Feldhamster zu machen. Das wird der Insta- Knaller des Tages, soviel ist sicher." Als wären sie auf einer geheimen Mission, zog Zachy Alany in einen Seitengang. „Komm schon, kenne ich ihn?" Zachys Augen leuchteten wissbegierig. In puncto Klatsch und Tratsch war er schlimmer als jedes Mädchen.

In Alanys Magen verknotete sich etwas. Sie kam prima mit Zachy klar und letztes Jahr hatten sie eine Menge Spaß in Mrs. Schrumpernagels Unterricht gehabt, doch sie wollte nicht mit ihm über Jungs reden. Zachy war ein netter Typ. Aber sie konnte nicht mit ihm im Pyjama im Bett liegen und sich die Fußnägel lackieren, während sie ihm Milans Lächeln schilderte. Dafür brauchte sie ihre beste Freundin. 

Tiana. Mariah. Der Alkohol. Auf einmal stürzte alles wieder auf Alany ein und ihr wurde schwindlig. „Irgendwann werd ich es dir verraten, bloß nicht jetzt", versprach sie, bevor sie den verdutzten Zachy im Gang stehen ließ und in Richtung Pausenhof eilte. 

                                                                     *

Tiana. Alany fühlte sich schuldig, ihr noch keinen Besuch abgestattet zu haben. Zwischen ihnen flogen ab und an die Fetzen, doch sollte eine beste Freundin nicht besonders dann da sein, wenn es hart auf hart kam? Milan hatte zu viele Menschen aus ihrem Kopf verdrängt. Zuerst hatte sie Greg vergessen, und jetzt Tiana. Halt, vergessen war nicht das richtige Wort. Gedanklich beiseitegeschoben traf es besser. Um ehrlich zu sein konnte Alany sich nicht erinnern, wann sie in den vorangegangenen Tagen den letzten klaren Gedanken gefasst hatte. In ihrem Kopf schienen einzelne Puzzlestücke herumzuschwirren und es war an der Zeit, das Puzzle wieder zusammenzusetzen.


Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now