Auf dem Gartenhausdach *3*

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Alany konnte nicht in Worte fassen, wie erleichtert sie war, dass ihr Vater sich für sie gefreut hatte. Sie traute sich nicht, daran zu denken, was passiert wäre, wenn er anders reagiert hätte. Gedankenversunken legte sie sich auf ihre Bettdecke und sah zum Fenster hinaus. Inzwischen war es dämmrig geworden und sie konnte eine Eule schuhuhen hören. Morgen würde Milan Jamie kennenlernen und umgekehrt. Erst heute hatte sie ihre Beziehung vor ihrem Vater "offiziell" gemacht und einen Tag später traf er bereits auf ihren Freund. Die Welt drehte sich manchmal schneller als man dachte. 

Alany hatte keine Bedenken, dass Milan und ihr Vater sich nicht verstehen würden. Im Gegenteil. Vor dem Brunch fürchtete sie sich trotzdem. Würde das Essen peinlich werden? Sie wusste schließlich nicht, wie man sich benahm, wenn man in Gegenwart anderer Leute- auch wenn es sich bloß um ihren Vater handelte- mit seinem Freund zusammen war. Milan und sie hatten noch nicht einmal ein richtiges Date zu zweit gehabt. Hätte sie ihren Vater bitten sollen, den Brunch zu verschieben, um Milan und ihr Zeit zu geben, sich vernünftig kennenzulernen? Traf man sich nicht erst ein paar Mal alleine, bevor man die Eltern hinzuzog? Andererseits sagte Alanys Herzen ihr, dass es in Ordnung war, Milan gleich zu Anfang nach Hause zu bitten. Schließlich waren sie keine albernen Teenager, die erst herausfinden mussten, ob sie zusammengehörten. Ihr war vom ersten Augenblick an klar gewesen, dass Milan und sie füreinander bestimmt waren und dass sie nicht wie viele junge Paare nach ein paar Wochen das Handtuch werfen würden. Milan sah es genauso, dessen war sie sich sicher.

Alany dachte an das Gespräch im Arztzimmer mit George, dem Skelett, zurück und musste lächeln. Wie sehr sich Milan damals um ihre familiären Probleme gesorgt hatte, obwohl sie sich kaum gekannt hatten! Und der Nachmittag am See. Nicht zu vergessen, der fragende Ausdruck in seinem Gesicht, als er am Fußballfeld, während er Greg behandelt hatte, seinen Kopf gehoben und ihr in die Augen geblickt hatte. Nein, auch wenn sie beim Brunch nervös sein würde wie nie zuvor oder sich blamierte oder Jamie unpassende Bemerkungen machte- es war nicht wichtig. Sie liebte Milan und das war das Einzige, das zählte.

                                                                       *

„Oh mein Gott. Wie seh ich denn aus?" Alany betrachtete sich im Spiegel und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Nein, sie war nicht Mariah und würde sich auch niemals so viele Sorgen um ihr Aussehen machen wie ihre große Cousine, doch sie wollte für Milan hübsch aussehen. Im Moment sah sie mit ihrem lila- weiß karierten Schlafanzug, ihren Plüschpantoffeln und den wilden Locken aus wie eine Mischung zwischen einer Amazone und Wendy Darling aus Peter Pan. Auch wenn Alany sich sicher war, dass Milan sie auch mit strubbligem Haar und Jeans mochte, wollte sie sich von nun an mehr Mühe mit ihrem Aussehen geben. „Jetzt versteh ich endlich, warum süße Jungs der Grund dafür sind, dass so viele Mädchen jede Woche im Fitnessstudio schuften und sich aufgrund jedes Pickels aufregen, als wäre die Titanic ein zweites Mal gesunken", dachte sie, während sie ihren Finger um eine Locke wickelte.

Obwohl sich der Trotzkopf in Alany dagegen sträubte, durchsuchte sie ihren Schrank nach etwas Hübschem zum Anziehen. Leider ohne durchschlagenden Erfolg, weil ihre Garderobe abgesehen von Jeans, T-Shirts, Pullovern und stinknormalen Schuhen nichts hergab. Kritisch warf Alany einen Blick auf die weiße Bluse und den schwarzen Rock, den sie ausschließlich an Feiertagen anzog. Lieber nicht. Milan würde sich schlapplachen, wenn sie auf einmal so aufgetakelt vor ihm stand.

„Besser, ich übertreib's nicht, schließlich hat Milan sich in die normale Alany verliebt", besann Alany sich letztendlich und schloss die Schranktür. Sie hoffte, dass solche Selbstzweifel typisch für jemanden waren, der seit einer Woche seinen ersten Freund hatte und das sie bald wieder verschwinden würden. Langsam verstand Alany sich selbst nicht mehr. Früher war sie das selbstbewussteste Kind weit und breit gewesen, doch inzwischen zweifelte sie ständig an sich. War Mariah genauso durcheinander gewesen wie sie? Dann war es vielleicht kein Wunder, dass sie nach einem Weg gesucht hatte, sich abzureagieren.

Alany schnappte sich ein Buch, um sich vom ersten offiziellen Aufeinandertreffen ihres Vaters mit Milan abzulenken. Schließlich waren gute Bücher wie Besen, die Sorgen und Nöte jeder Größenordnung mit Schwung aus dem Kopf fegten. Bevor sie in die Welt von Katniss Everdeen eintauchte, nahm sie sich vor, Mariah diesen Tipp zu geben, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde.

                                                                         *

Zehn Uhr kam schneller als erwartet und Alany tauschte ihre Jogginghose gegen ein sauberes T-Shirt, eine Strickjacke und Jeans. Zuletzt glättete sie ihr Haar mit dem Glätteisen, das Mariah ihr zu ihrem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Das Glätteisen war nagelneu, da Alany es noch nie benutzt hatte, und sie verbrannte sich prompt ihren rechten Daumen, als sie es einschaltete. „Was für eine Premiere! Wer schön sein will, muss leiden- haha!", knurrte sie laut mit einem deutlich hörbaren sarkastischen Unterton. „Weil mittelalterliche Folterinstrumente wie das Korsett abgeschafft wurden, mussten sie sich anscheinend was Neues einfallen lassen." Mit Missfallen betrachtete sie das Glätteisen, das zu allem Überfluss pink war, doch ihre Neugier siegte.

Nach einer Weile hatte Alany den Dreh raus und schaffte es, ihre Locken in halbwegs anständige Wellen umzuwandeln. Als sie das Glätteisen beiseite legte und dem Ergebnis erstmals ihre volle Beachtung schenkte (während des Glättprozesses war sie zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich nicht auch noch ihre restlichen Finger zu verbrennen), traute sie ihren Augen nicht. Sie erkannte sich zwar wieder, doch sie sah verändert aus. Die neue Frisur ließ ihre Gesichtszüge edler und reifer wirken. Nun sah sie nicht mehr wie ein chaotisches Mädchen aus, sondern wie eine junge Frau. Das musste Alany dem Glätteisen lassen: Sie sah gut aus. Hübscher als Mariah, ließ das egoistische Teufelchen in ihr verlauten. „Mariah und ich treten in keiner Schönheitskonkurrenz gegeneinander an", drängte Alany daraufhin das Teufelchen zurück und wandte ihren Blick vom Spiegel ab. Ihr wurde zum ersten Mal klar, dass sie mit ihrem Aussehen vermutlich die beliebtesten Jungen der Schule beeindrucken könnte, wenn sie es darauf anlegte. Könnte. Doch sie verspürte im Gegensatz zu Mariah nicht den Wunsch, sich auf dem Silbertablett zu servieren.

Alany hatte im Gegensatz zu Mariah kein Problem damit, nicht zu den angesagten Teens zu gehören, die an der Schule bekannt waren wie bunte Hunde. Ihr war lediglich die Aufmerksamkeit eines einzigen Jungens wichtig: Des Jungens, der ihr Herz jedes Mal, wenn sie ihm in die Augen blickte, auf eine Achterbahnfahrt schickte. Deshalb verzichtete sie auf jegliches Make- up und steckte sich nach gründlichem Überlegen ein Gänseblümchen, das sie aus einem Blumentopf im Wohnzimmer stibitzt hatte, ins Haar. „Milan will bestimmt kein oberflächliches Mädchen, das durchdreht, weil es seine Freundin sein darf", versetzte Alany dem Teufelchen schließlich den Todesstoß und verließ das Badezimmer, ohne einen weiteren Blick in den Spiegel zu werfen.

                                                                 *

Jamie wirbelte bereits geschäftig in der Küche umher. Der Tisch war fertig gedeckt und es duftete unwiderstehlich nach frischen Pfannkuchen und Rührei. „Halleluja!", rief Jamie und riss theatralisch die Augen auf. „Mariah würde vor Freude in die Luft springen, weil du das Glätteisen für dich entdeckt hast."

Alany zwickte ihn liebevoll in die Seite. „Gut, dass Milan Sanitäter ist, denn bei der Menge an Essen kann es gut sein, dass mein Magen explodiert." Begeistert ließ sie ihren Blick über die Pfannkuchen, den Toast, die Rühreier, die Croissants und den großen Teller mit den Erdbeeren und Bananen gleiten. Wenn sich ihr Vater auch in Zukunft so sehr mit dem Essen bemühen würde, würde sie Tante Carolines Kochkünsten nicht mehr nachtrauern.

„Ich schätze, dein Schatz wird bald eintreffen", verkündigte Jamie mit einem verschmitzten Grinsen, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. „Es ist zehn vor elf und als gut erzogener junger Mann kommt Milan sicher rechtzeitig."

Wie auf ein Signal klingelte es und Alanys Herz begann wie wild zu klopfen. Sie hatte ihren Freund seit dem Kuss vor ungefähr eineinhalb Wochen nicht mehr gesehen und kaum mit ihm gesprochen. Zudem wurde sie von der Vorstellung, von nun an nichts mehr verbergen zu müssen, sondern ihren Gefühlen freien Lauf lassen zu können, überwältigt.

„Viel Glück", flüsterte Jamie Alany sanft ins Ohr und drückte sie heftig, bevor sie hektisch aus der Küche und auf die Tür zustürmte.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Donde viven las historias. Descúbrelo ahora