Milan *2*

27 6 6
                                    

„Ich mach auf!", opferte Alany sich und schlenderte zur Tür- oder besser gesagt schlurfte zur Tür, denn in ihren Plüschpantoffeln bekam sie die Füße nicht richtig vom Boden. So früh am Morgen klingelten eigentlich nur zwei Leute: Louis, der Paketbote, der mit seiner piepsigen Stimme hin und wieder um eine Unterschrift auf seinem Klemmbrett bat, und Jessica, ihre quirlige Nachbarin, der allmorgendlich auffiel, dass sie am Vortag versäumt hatte, Salz für ihre Spiegeleier zu kaufen. Heute stand allerdings keine ihrer Türbekanntschaften Spalier, sondern Blair.

„Morgen, Alany!", grüßte er freundlich und schaffte es gerade noch, sich die Hand vor den Mund zu halten, bevor er herzhaft gähnte. Ohne sich umzudrehen registrierte Alany, dass Jamie sich neben sie in den Türrahmen schob. Ihr Vater musterte Blair mit euphorischer Neugier. Schließlich schaffte Jamie es endlich, ein ungeschicktes „na" hervorzubringen, das nicht einmal halb so beiläufig klang, wie es wohl geplant gewesen war. Genau wie sein politischer Namensvetter, der ‚unbeliebtere' Tony Blair- wie Alany ihn gerne nannte, wenn die Rede von dem Mann aus der Downing Street war- besaß Blair jedoch ausgeprägtes schauspielerisches Talent. Indem er eine völlig ausdruckslose Mine aufsetzte, ließ er Jamie zappeln.

„Sie sind eine Last, diese jämmerlichen Sehnen!", seufzte Blair, während er Alany und Jamie ins Wohnzimmer folgte und sich aufs Sofa setzte. „Würde man sie rausnehmen und in dieses Spannmessgerät, das in den Testzentralen, in denen Spielzeuge für Kinder auf Reißfestigkeit geprüft werden, einlegen, würden sie wahrscheinlich..."

„Ach Blair, willst du, dass mir mein Frühstück hochkommt und ich den Teppich- ok, ich gebe zu, dass er hässlich ist, aber du musst wissen, dass Caroline ihn ausgesucht hat- in die Reinigung bringen muss?", unterbrach Jamie ihn bis über beide Ohren grinsend. Dann tätschelte er Blair sanft die Schulter, darauf bedacht nichts, was später auf dem Spielfeld nützlich sein könnte, zu demolieren. Blairs typisch britischer Humor war sowohl bei seinen Maklerkollegen als auch auf dem Spielfeld berüchtigt und kam außer bei deutschen Touristen und Japanern bei jedem gut an.

Nachdem Blair, um Jamie zu ärgern, noch ein Weilchen über belanglose Themen wie den Verlust von Tommies rechtem Backenzahn geplaudert hatte, kam er zum springenden Punkt.Es war höchste Zeit, denn Jamie war inzwischen aufgesprungen und hatte begonnen, wie ein Hamster, der in hohem Bogen aus seinem Laufrad katapultiert worden war, durchs Wohnzimmer zu laufen. „Jamie O'Callaghan, der Arzt erlaubt mir eine Halbzeit."

„Wirklich?", rief Jamie und blieb abrupt stehen. Alany war sich nicht sicher, ob er freudig oder enttäuscht klang.

„Jep, eine Halbzeit." Blair lehnte sich gegen die Sofalehne zurück und zog aus seiner Trainingsjacke ein Papiertaschentuch, von dem er Gebrauch machte. Jamie schien währenddessen angestrengt nachzudenken, denn er lief, die Hände in den Hosentaschen, im Kreis. Dabei schnappte Alany Wortfetzen wie „vielleicht", „so schlimm wird es schon nicht werden" und „er verdient eine Chance" auf.

„Großer Prophet, sind Sie am Ende des langen Weges zu einer Lösung gekommen?", wollte Blair mit einer gehörigen Portion Sarkasmus in der Stimme wissen.

„Mehr oder weniger!", antwortete Jamie und warf sich seine Sporttasche über die Schulter, während er auf die Haustür zusteuerte.

„Also los, dein Vater hat das Kommando!", wandte Blair sich an Alany und stand mit einem Ächzen von der Couch auf. Alany konnte in seinem verschlafenen Gesicht lesen, dass er gerne noch ein paar Minuten sitzen geblieben wäre, doch die Pflicht rufte.

                                                                        *

„Ich hoffe für Oliver, dass er ausnahmsweise ausgeschlafen und gekämmt auf dem Spielfeld auftaucht!", dachte Alany, als ihr Vater, Blair und sie sich auf dem Weg zum Spiel befanden.

Es wäre peinlich, sich gegen die Cheltenham Ladybirds zu blamieren, weil sie im Laufe der Zeit die Erzrivalen der Lions geworden waren. Da zum ersten Mal Oliver eine Halbzeit im Tor verbringen würde, zweifelte Alany. Ihrer Meinung nach hätte man Jamie als Ersatztorwart verpflichten sollen, aber ihr Vater hatte mit der Begründung, er sei der Trainer und schulde es seinen Spielern, ihr Talent unter Beweis stellen zu können, abgelehnt.

Zudem handelte es sich für die Cheltenham Ladybirds um ein Heimspiel, weshalb sicherlich das ganze Dorf auf den Beinen war. Zwar war Cheltenham Jamies Meinung nach, das „spießigste Kaff in ganz England", doch „da der Lions-Fanclub vorwiegend aus Gregs alter Mutter und Jazz' gepiercter Freundin besteht, schaffen es die Dörfler vermutlich trotzdem, unseren zwölften Mann an Lautstärke zu übertreffen!" Erst als Blair anfing zu kichern, merkte Alany, dass sie die letzten Worte laut ausgesprochen hatte. 

Als sie am ‚heiligen Rasen' der Cheltenham Ladybirds angekommen waren, erblickten sie Paul Simmons, den Trainer der Ladybirds. Am anderen Ende des Spielfeldes wärmten sich bereits einige seiner Spieler auf. Von einem Fanclub war allerdings noch keine Spur zu sehen.

„Willkommen in Cheltenham, Sportsfreunde!", rief Trainer Simmons ihnen entgegen und kam zu ihnen herübergejoggt. Obwohl er seinen leicht ergrauten Haaren und einigen kleinen Fältchen nach zu schließen mindestens zehn Jahre älter als Jamie war, wies er einen vielleicht sogar zu durchtrainierten Körper auf. Ginge es nach Alany, sollte es ein Maximalvolumen für Muskeln geben, denn die von Paul Simmons stellten fast eine Beleidigung für die Umwelt dar.

„Danke, Paul. Neue Spieler?" Jamie nickte zu zwei großen Jungs hinüber, die sich gerade dehnten. „Das sind Constantin und Matt, das Frischfleisch in unserem Raubtiergehege." Paul Simmons lachte dümmlich. „Passt auf, ihr Langweiler, heute werden wir euch vom Platz fegen!", rief er ihnen noch zu, bevor er sich wieder zu seiner Mannschaft begab. Anscheinend hatten sich die netten Worte, die er zur Begrüßung gefunden hatte, aus reinem Zufall in seinen Mund verirrt.

Greg schüttelte den Kopf. „Warum macht Paul einen auf Erzfeinde, obwohl er tief in seinem Inneren ein netter Kerl ist? Ich checks nicht."

Jamie zuckte die Schultern. „Böses Blut macht Sportler aggressiv und sie strengen sich gegen den Feind mehr an. Oder Paul benimmt sich so, weil alle von ihm erwarten, dass er Gift verspritzt. Oder aber es macht ihm einfach Spaß. Wahrscheinlich ein bisschen von allem."

Alany reckte neugierig den Hals, um einen Blick auf die neuen Spieler der Ladybirds zu werfen. Und ihr gefiel, was sie sah.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now