Liebe ist wie Bungeejumping *2*

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Im  Biologie- Unterricht am nächsten Tag blieb der Stuhl neben Alany leer. Die Stunden, in denen Tiana und sie gemeinsam über den vor den verrückt gewordenen Laborratten fliehenden Mr. Watson gelacht oder unter dem Tisch Käsekästchen gespielt hatten, schienen ein verstaubtes Relikt aus der Vergangenheit zu sein. Alany lachte nicht mal, als Julia Lee ihren Kopf beim Versuch einen Zebrafisch herauszuholen ins Aquarium tunkte.

Die St. Mary's School wirkte ohne Mariah und Tiana lebloser als sonst. Selbst die exzentrischen Theaterschüler, die in bunten Kostümen ihr neues Stück anpriesen, änderten daran nichts.

In der Pause verkroch Alany sich in eine stille Ecke und versuchte, die Ereignisse vom Vortag zu verarbeiten. Allzu gerne würde sie Alex nach seiner Meinung fragen, doch sie wusste nicht, wie aufgewühlt er war. Tante Caroline wusste wahrscheinlich besser, wie man einem dreizehnjährigen Jungen erklärte, dass seine Schwester sich fast ins Koma gesoffen hatte.

Als die Schulglocke um vier Uhr nachmittags läutete, ertappte Alany sich dabei, sich einen längeren Schultag zu wünschen. Auch wenn sie sich in der Schule oft langweilte, lenkte sie das Gebrabbel der Lehrer wenigstens von dem Durcheinander in ihrem Kopf ab. Als Jamie und sie noch bei Onkel Richard gewohnt hatten, hatte sie nach der Schule stets jemanden gehabt, mit dem sie reden konnte. Seit dem Auszug konnte sie niemandem mehr ihre Sorgen anvertrauen, wenn ihr Vater auf der Arbeit war. Sie könnte zwar Tante Caroline anrufen, aber das Telefon war kein wirklicher Ersatz für ein Gespräch unter vier Augen.

Im Moment kam Alany die Schule wie der schönste Ort auf der ganzen Welt vor, denn sie war so herrlich oberflächlich. Auf den Treppen saßen übertrieben geschminkte Mädchen, die sich zur Begrüßung Wangenküsschen gaben und sich gegenseitig versicherten, wie hübsch und klug sie seien, und die Jungs aus dem Schwimmteam knutschten jede Woche mit einer anderen Verehrerin. Man grüßte Leute auf dem Gang, die man nicht richtig kannte, und setzte seine ‚alles-ist-perfekt-Schutzmaske' auch dann auf, wenn man am liebsten losgeschrien hätte. Schule war eine Welt voller Illusionen.

Normalerweise hasste Alany alles Oberflächliche, doch im Moment kam es ihr gerade recht. Wenigstens interessierte sich so niemand ernsthaft dafür, wie sie sich fühlte. Wahrscheinlich sorgte Zachy sich um ihr Wohlergehen, doch er war nicht feinfühlig genug, um ihre Tarnmaske zu durchschauen. 

In der Schule spielte Alany das alltägliche Spiel der perfekten Welt mit. Sie fand es erfrischend, sich ein Leben wie aus dem Bilderbuch vorzugaukeln und alle Probleme zu ignorieren. In dieser Scheinwelt existierten außer Rand und Band geratene Cousinen und beste Freundinnen genauso wenig wie das Gefühlschaos des Verliebtseins. Das Problem bestand lediglich darin, dass der Staat Kinder nicht vierundzwanzig Stunden lang in der Schule festhalten konnte. Folglich war der Schultag jetzt zu Ende und die Schutzhülle der Regenbogenwelt, die Alany den ganzen Tag über behütet hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase.

                                                                     *

Nicht einmal Ricos freundliches Gesicht konnte Alany aufheitern, als sie am Nachmittag in den Schulbus stieg. Und das, obwohl die Busfahrerin heute mehr denn je wie ein Paradiesvogel aussah, weil sie sich die Haare lila gefärbt und sich einen Nasenpiercing shatte stechen lassen.

Alany setzte ihr strahlendstes Hollwoodlächeln auf. Allerdings musste sie sich verraten haben, denn Rico wies sie mit einer Kopfbewegung an, sich auf den Sitz direkt hinter ihr zu setzen. „Wo drückt der Schuh?", fragte die junge Frau mit deutlich hörbarem Akzent und fuhr abrupt an. Obwohl Alany nicht in der Laune war, Rico ihr Herz auszuschütten, vertraute sie sich ihr an. Schließlich war Rico nicht der Typ Mensch, der lockerließ.

Rico... Alany sah die Busfahrerin auf dem Hinweg zur Schule und dem Rückweg nach Hause, also zweimal an jedem Schultag und zehnmal die Woche. Leider hatte sich zwischen ihnen noch keine echte Freundschaft entwickelt, da Rico den Bus steuern musste und Alanys Gedanken meist um Mariah, Tiana, Milan oder Jamie kreisten. Dennoch war Alany froh, dass Rico ihr zuhörte.

„Deine Cousine scheint ein durchtriebenes Luder zu sein", stellte die Busfahrerin letztendlich fest. Aus ihrem Mund klang es jedoch nicht wie eine Beleidigung, sondern wie eine nüchterne Feststellung. „An meiner alten Schule gab es jede Menge solcher Mädels. Sie wollen alles auf einmal. Den heißesten Typen, die bewundernden Blicke der anderen Mädchen, einen perfekten Körper und vor allem den Titel der Schulkönigin. Tja- uhhh..." Rico musste scharf auf die Bremse treten, weil sie beinahe einem PKW die Vorfahrt genommen hatte. „Irgendwann wächst aber ihren Erdnusshirnen alles über den Kopf und sie flippen aus. Ist harte Arbeit, 24/7 die Königin zu spielen."

Alany schluckte. „Aber die Sommerferien sind erst seit zwei Wochen vorbei. Wie kann Mariah so schnell zur neuen Queen B aufsteigen und gleich darauf vom Thron abstürzen?", warf sie ein.

„Sie hat's einfach nicht drauf. Dann gehen Aufstieg und Fall der neuen Dramaqueen flott über die Bühne", antwortete Rico schnippisch. „Sieh das Saufgelage deiner Cousine positiv, Alany: Vielleicht kommt sie zur Vernunft und lässt den ganzen Zirkus so schnell hinter sich wie sie in ihn hineingeraten ist. Anscheinend taugt Mariah nicht zur Schulkönigin."

„Ich glaube nicht, dass der Krankenhausaufenthalt Mariah wie magisch in ihr altes Ich zurück verwandelt", murmelte Alany, allerdings so leise, dass Rico es nicht hören konnte. Die Befürchtung, dass etwas in den Ferien vorgefallen sein musste, das Mariah verändert hatte, ließ sie nicht los. Doch so sehr sie sich auch das Hirn zermarterte, sie konnte sich an nichts erinnern.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now