Eine Schlägerei und ein Vater-Tochter-Projekt *6*

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Paul Anderson zog sich zurück, während Jamie unter Applaus neben die Videoleinwand trat. Hatte Jamie noch im Auto Spuren von Nervosität gezeigt, so waren diese nun vollständig verschwunden. Er wirkte selbstsicher und zufrieden, als er mit klarer Stimme zu sprechen begann. „Liebe Arbeitskollegen, Teammitglieder und vor allem Freunde, eure Unterstützung in den letzten Wochen war bei der Entwicklung unseres Projektes eine große Stütze. Es ist eine Ehre, zum ersten Mal die Leitung einer so umfangreichen Marketingkampagne übernehmen zu dürfen. An dieser Stelle möchte ich unserem allseits geschätzten Chef, Paul Anderson"- Jamie nickte Paul zu- „für das Vertrauen, das er mir entgegengebracht hat, danken."

Kurzer Applaus ertönte.

„Fangen Sie schon an, O'Callaghan", rief der Chef und gestikulierte wild. Anscheinend konnte er es kaum abwarten, Jamies bahnbrechende Ideen zu Gesicht zu bekommen.

„In Ordnung. Als erstes werde ich Ihnen die drei Großraumplakate vorstellen, die unser Team für die neue Sportschuhkollektion von Nike entworfen hat. Julia, würdest du bitte den Beamer anschalten?"

Alany musste sich das Lachen verkneifen, als Julia ergeben nickte. „Sie sieht aus wie ein Dackel, der Herrchen seiner Treue versichert", dachte Alany und fühlte sich versucht, der Sekretärin ein Leckerli zu reichen.

Zunächst hatte Julia mit dem Beamer zu kämpfen, letztendlich flackerte Jamies Präsentation jedoch auf der großen Leinwand auf. Nike EVOLUTION-the new species of running shoes stand nun in leuchtenden Grün- und Blautönen an der Wand geschrieben. Unterhalb dieses Titels war der wertvollste Laufschuh der Kollektion, ein vollständig in Gold getauchtes Modell, in Übergröße zu sehen. Um das Photo des Schuhs herum befanden sich sowohl Urzeittiere als auch in der Gegenwart lebende und futuristische Geschöpfe.

„Mir gefällt die Spritzigkeit und der Wow- Effekt dieses Plakats", analysierte Paul Anderson und gab Jamie ein Zeichen fortzufahren. Auf dem nächsten Plakatentwurf war die Entwicklung des Menschen zu sehen, wie Alany sie aus dem Biologieunterricht kannte: Sie begann mit einem auf allen vieren gehenden Menschenaffen, der sich nach und nach in einen Neandertaler und dann in ein Exemplar der Gattung homo sapiens verwandelte. In Jamies Version folgte auf den homo sapiens ein athletisch gebauter Mann mit Nike Turnschuhen. Paul pfiff durch die Zähne. „Genialer Einfall", wandte er sich lobend an seinen Mitarbeiter, doch der winkte ab.

„So gern ich das Lob auch selbst einheimsen würde, es war Nicoles Idee."

„Nicole, Sie entwickeln sich vielversprechend", wandte der Chef sich daraufhin an Jamies Lieblingsarbeitskollegin Nicole, die über beide Ohren strahlte. „Wenn ich mich recht erinnere, hat Adidas vor gut drei Jahren das gleiche Muster verwendet, allerdings mit einem Eishockeyspieler am Schluss. Letztlich ist die Entwicklung des Menschen allerdings allgemeines Kulturgut, deshalb wird uns die Konkurrenz nicht verklagen können.

Pauls Sekretäre schrieben eifrig in ihren Notizbüchern mit. „Für unseren letzten Plakatentwurf haben wir uns von der sanften Federung der Nike Laufschuhe inspirieren lassen!", kündigte Jamie den dritten Plakatentwurf an, bevor ein gigantischer Strudel aus Grün- und Blautönen auf der Leinwand erschien. Alany musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, was er darstellte. Anscheinend handelte es sich um einen blaugrünen Turnschuh, dem ellenlange Seitenflossen, die an durch die Luft schwebende Seidentücher erinnerten, gewachsen waren. Der Schuh ‚schwamm' elegant durchs Wasser und die Farbübergänge zwischen Schuh und Meer waren dabei so fließend, dass sie miteinander verbunden zu sein schienen.

„Genau deshalb habe ich Ihnen den Posten als Projektleiter gegeben!", rief der Chef aus, sprang auf und umarmte Jamie. „Mit diesem Konzept lassen wir die Konkurrenz alt aussehen! Wenn der Videoclip genauso gut ist, wird Nike unsere Gage erhöhen müssen!" Lachend nahm der Firmenchef wieder Platz.

Alany hätte vor Freude am liebsten laut singend auf dem Tisch getanzt, doch sie schaffte es, sich zu beherrschen. Jamie holte tief Luft und nun war ein leichtes Zittern in seiner Stimme zu hören. „Paps hat wahrscheinlich Angst, dass sein Chef vom Videoclip enttäuscht ist!", schoss es Alany durch den Kopf. Instinktiv drückte sie ihrem Vater die Daumen.

„Unser Videoclip basiert auf den Ideen aller drei Plakate. Darf ich Gerald Patterson, den Hauptverantwortlichen für den Clip, nach vorne bitten?" Gerald Patterson, ein hochgewachsener Mann mit beachtlichem Schnauzbart präsentierte den Videoclip, indem er ihn alle paar Sekunden stoppte und erläuterte.

Alany musste sich das Gähnen verkneifen. Anscheinend war es unvermeidlich, dass Projektvorstellungen nach einer Weile langweilig wurden. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Nicole ihren Bleistift in ihrer Hand drehte.

Im Clip schwamm der Turnschuh mit den Flossen aus Jamies Plakat umgeben von Urzeitfischen im Meer. Im Laufe des Kurzfilms verwandelte sich das Schuhmodell immer wieder und die Urzeitfische entwickelten sich mit jedem neuen Schuh eine Stufe weiter. Zuguterletzt rauschte der Schuh- Fisch, der nun silbern war und glitzernde Flossen hatte, an die Wasseroberfläche und ‚segelte' an Land. Kurz bevor er auf dem Boden aufkam, verwandelte sich der ‚Fisch' schließlich in einen gutaussehenden Sportler. Dann sprintete der Sportler, dessen Füße nun die goldenen Laufschuhe des ersten Plakats zierten, los. Neben ihm tauchten weitere Läufer mit futuristischen Frisuren auf, die alle Laufschuhe der neuen Kollektion trugen. Allerdings stach der Läufer mit den goldenen Turnschuhen heraus, da seine Schuhe eine Art goldenen Nebel versprühten, der ihn einhüllte. Nike Evolution- the new species of running shoes leuchtete zum Schluss in goldenen Buchstaben auf.

„Bravo!" Julia war aufgesprungen und klatschte eifrig in die Hände. „Unglaublich!"

Nicole, die sich inzwischen zu Alany begeben hatte, verdrehte die Augen, bevor auch sie applaudierte. Immer mehr Angestellte stimmten ein, bis der ganze Raum vom Beifall, den sich Jamies Team mehr als verdient hatte, wiederhallte.

„Dein Vater ist ein fantastischer Mensch!", flüsterte Nicole Alany ins Ohr und bekam dabei rote Wangen. Alany lächelte sie an. Nicole mit ihren roten Haaren und ihren Sommersprossen würde ihrer Meinung nach als neue Frau an Jamies Seite eine viel bessere Figur machen als Julia.

                                                            *

Der Freitag und damit die Herbstferien kam schneller als erwartet. Außer dass Zachy sich während der vergangenen Woche auffallend oft zu Alex gesellt hatte, war nichts Erwähnenswertes passiert. Alany vermutete, dass der Kampf ihres Cousins mit Nino und Tim ihrem Kumpel sehr imponiert hatte.

Am Donnerstag hatte Dr. Attila Castle-Jones angerufen, um Alany zu berichten, dass Tiana pünktlich zu Beginn der Ferien entlassen wurde. Freundlich aber nachdrücklich hatte er Alany gebeten, sie zu besuchen und ein Wörtchen mit ihrer Mutter zu reden. „Ich habe mit Mrs. Manzotti gesprochen, doch sie hat keinerlei Verständnis für ihre Tochter gezeigt", hatte er erklärt.

Alany hatte sich nach dem Telefonat gefragt, ob Milan seinem Vater von dem Kuss erzählt hatte. Der Chefarzt hatte am Telefon äußerst sachlich geklungen, doch seine Schlussbemerkung hatte sie aufhorchen lassen: „Und Alany, ruf Milan bitte mal an. Ich glaube, er möchte mit dir reden." Und weshalb sollte Dr. Castle-Jones sie anrufen, wenn sein Sohn ihm nicht von ihr erzählt hätte? Alany atmete tief durch. Langsam wurde es ernst. Und das bedeutete, dass sie Jamie nicht viel länger anschweigen konnte.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Waar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu