Liebe ist wie Bungeejumping *6*

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In den nächsten Tagen hatte Alany viel Zeit zum Nachdenken, da rein gar nichts passierte. Weder gab es unterhaltsame Unterrichtsstunden bei Mrs. Schrumpernagel noch Neuigkeiten von Mariah oder Tiana noch bekam sie Jamie oft zu Gesicht. Im Moment arbeitete er an einer großen Werbekampagne für Nike und sein Chef hatte ihm die Projektleitung anvertraut. Einerseits bedeutete das zusätzliches Geld für die Familienkasse, andererseits machte Jamie andauernd Überstunden.

„Wie genau stellst du dir die Werbung für den neuen Nike Laufschuh überhaupt vor?", hatte Alany ihren Vater neulich beim Abendessen gefragt, woraufhin er ihr Computerentwurf über Computerentwurf gezeigt hatte. Jamie entwarf nicht nur Plakate und einen Werbefilm, sondern plante auch einen Benefizmarathon in Edinburgh, um den Schuh bekannt zu machen.

Sogar Milan meldete sich eine ganze Woche lang nicht. Betrachtete er sie lediglich als gute Freundin, mit der man sich ab und zu zum Kaffeetrinken verabredete und der man in Notsituationen ein offenes Ohr schenkte? Obwohl er eine Freundin aus vielen bestimmt nicht so süß anlächeln würde, befürchtete Alany, dass Milan nur mit ihr befreundet sein wollte. Wie verletzt wäre sie, wenn es tatsächlich so wäre! 

Ein bisher unbekanntes Feuer loderte in ihr auf und dieses Feuer schien bei jedem Gedanken an Milan neue Funken zu versprühen. Alany konnte sich nicht erinnern, jemals solche Sehnsucht nach einem Menschen gehabt zu haben. Des Öfteren hatte sie sich zwar gewünscht, ihre Mutter kennenzulernen, doch sie hatte nie das Gefühl gehabt, deswegen fast zu zerplatzen. Sie hatte akzeptiert, dass jene Joanna Angel sich nicht für sie interessierte. Mit Milan war es anders, denn das Verlangen nach seiner Nähe machte sie fast verrückt. Alany schaffte es nicht mal, sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren. Schließlich gab sie auf und versuchte den jungen Sanitäter aus ihrem Kopf zu verdrängen, jedoch ohne Erfolg.

Im Nachhinein verstand Alany einige von Mariahs Entwicklungsphasen besser. Falls Mariah das gleiche Kribbeln im ganzen Körper gespürt hatte, wenn sie ein Bild von Harry Styles angesehen hatte, wäre das eine Erklärung für ihre damaligen Kreisch- und Ohnmachtsanfälle. Justin war zwei Jahre lang Mariahs ein- und- alles gewesen. Damals war sie stundenlang mit einem Ausdruck im Gesicht, mit dem Alany damals nichts hatte anfangen können, vor seinem Poster gesessen. Und nun sah Alany denselben verträumten Blick in ihren eigenen Augen, wenn sie in ihren Spiegel blickte.

                                                               *

Einen Tag später riss Alanys Geduldsfaden. Das Warten inklusive all des Bangens und Hoffens kam für sie einem Spießrutenlauf gleich. Sie musste etwas tun, bevor sie durchdrehte. Zögerlich holte sie deshalb am nächsten Tag nach der Schule das Telefonbuch hervor und suchte Milans Nummer heraus. Vielleicht konnte sie vorgeben, mit Milan für einen Test lernen zu wollen- Nein, das wäre unglaubwürdig, da er nicht auf ihre Schule ging. Allerdings war sein Vater um diese Zeit sicherlich noch im Krankenhaus und Alany erinnerte sich dunkel daran, dass Milan ihr erzählt hatte, seine Mutter arbeite als Krankengymnastin. Wenn sie Glück hatte, nahm Milan das Telefon ab und sie ersparte sich die peinlichen Fragen seiner Eltern. Oder hatte er sie ihnen gegenüber bereits erwähnt? Bei diesem Gedanken wurde Alany rot.

Tut, tut, tut.... Alany spürte das starke Verlangen, den Hörer aufzulegen. Tut, tut, tut... Ihr Herzschlag schien sich dem nervigen Tuten anzupassen, denn sie spürte ihn kaum noch. Gleich würde ihr Herz vor lauter Anspannung aufhören zu schlagen. Noch war es nicht zu spät, noch konnte sie auflegen. Allerdings wäre sie dann keinen Schritt weitergekommen. Alany schien es, als wage sie sich in die Hölle des Löwen, so panisch wartete sie darauf, dass jemand abhob. Warum fiel es ihr so schwer, einen Freund anzurufen und sich mit ihm zu verabreden? Hilfe, jemand hob ab!

„Hi, hier ist Milan", meldete sich eine sehr müde klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. Alanys Kehle war auf einmal wie zugeschnürt und sie brachte keinen Ton heraus. 

„Wenn du's bist, Constantin, ich kann leider nicht zu eurem Spiel morgen kommen. Ich war die ganzen letzten Abende auf einer Weiterbildung zur Versorgung von Verbrennungsopfern und hab nicht viel geschlafen. Gibt's bei dir was Neues, Kumpel?"

Alanys Herz machte einen Hüpfer. Milan hatte sie also nicht vergessen, sondern an einer kräftezehrenden Fortbildung teilgenommen. Am besten gab sie ihm Zeit, sich auszuschlafen und redete morgen mit ihm. Im Moment hatte er sicherlich keine Lust, sich mit ihren Problemen zu beschäftigen.

„Hi, hier ist Alany", antwortete sie mit zittriger Stimme. „Tut mir leid, falls ich dich aufgeweckt hab. Ich wollte dich nicht..." Ihr fielen keine passenden Worte ein, die ihren Anruf weniger lächerlich wirken lassen würden. Milan musste sie für eine verknallte Klette halten.

„Ich höre deine Stimme so gerne." Was hatte sie gerade gesagt? Am liebsten hätte Alany sich selbst geohrfeigt. Sie musste dieses Gespräch sofort beenden, bevor ihr womöglich noch peinlichere Offenbarungen herausrutschten. „Hoffentlich sehen wir uns bald wieder- ich meine, bis dann."

„Alany, warte!" 

Alany hängte mit nun rasendem Herzen den Hörer auf und ließ sich auf die Treppenstufen sinken. Warum musste sie alles vermasseln? Bis jetzt hatte Milan sie gemocht, doch nun sah er, wie unreif sie war. Sie konnte mit einem Jungen, den sie mochte, ja nicht mal normal reden! Warum hatte sie nicht gewartet, bis er sie anrief? 

Alany vergrub den Kopf in den Händen und fing an, zu weinen. Konnte ihr Traumprinz nicht einfach auf seinem Schimmel dahergeritten kommen und sie küssen? Musste die Realität immer komplizierter sein? Nachdem sie sich beruhigt hatte, erinnerte sie sich an ein Detail, das die Tränen versiegen ließ. Hatte Milan nicht ‚Alany, warte' in den Hörer gerufen, als sie aufgelegt hatte? Wenn sie sich nicht irrte, rief man jemandem, den man loswerden wollte nicht das Wort ‚warte' zu. Zudem hatte Milans Stimme nicht mehr müde, sondern erwartungsvoll, ja glücklich geklungen.

Alany richtete sich auf, ging in die Küche und füllte eine Schale mit Eiscreme. Sie brauchte Zucker, um ihre Nerven zu beruhigen. Nachdem sie aufgegessen hatte, setzte sie sich vor den Fernseher und versuchte, sich mit "Britain's got talent" abzulenken. Natürlich vergeblich. Warum klingelte das Telefon jetzt nicht nochmal? Würde Milan morgen anrufen, damit es weniger peinlich für sie wurde oder sogar persönlich vorbeikommen? Fragen über Fragen.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now