Mariahs Absturz *3*

19 5 0
                                    

„Mariah liegt mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus", ließ Jamie endlich die Katze aus dem Sack. Dabei sah er aus, als wolle er mit seinem blassen Gesicht Michael Jackson Konkurrenz machen. 

Zu Alanys Überraschung schockierte sie diese Nachricht wenig. Seit Mariah zur Partyqueen mutierte, traute Alany ihrer Cousine alles zu, doch dass sie die Nachricht von Mariahs Alkoholvergiftung so ruhig aufnahm, hätte sie nicht gedacht. Ein Blick in Jamies Gesicht, ließ sie jedoch erahnen, dass der schockierende Teil der Geschichte noch bevorstand. „Mariah ist nicht die einzige, die eingeliefert wurde!", brachte Jamie mit Mühe hervor. „Tiana hat es ebenfalls erwischt." 

Alanys Kinnlade klappte herunter. Nachdem sie eine Zeit lang regungslos neben ihrem Vater gestanden hatte, versuchte sie vergeblich, sich mit einem Schokoladenmuffin zu beruhigen. „Bist du sicher?" fragte sie Jamie, als sie schließlich am Küchentisch saßen, und stellte mit Missfallen fest, dass ihre Stimme zitterte. Er nickte. „Leider ja. Richard hat mir erzählt, dass Mariah zu einer Party ins Black Out gegangen ist. Dort hat sie sich ohne Zweifel zu viel Wodka und Schnaps gegönnt, wofür sie nun die Rechnung bezahlt. Tiana ist laut dem Barkeeper in der Bar aufgetaucht, um sich mit einem der Kellner zu treffen. Anscheinend ist sie dort stattdessen Mariah über den Weg gelaufen."

„Und warum hat sich Tiana betrunken?", hakte Alany verzweifelt nach. Sie wollte nicht glauben, dass ihre beste Freundin von heute auf morgen Mariah nachmachte. Um ehrlich zu sein war Tiana schon immer exzentrisch gewesen und hatte des Öfteren ihre Grenzen ausgetestet, aber ein Partyanimal war sie nicht. 

„Keine Ahnung", erwiderte Jamie und legte Alany tröstend einen Arm um die Schultern. „Vermutlich hat Mariah Tiana überredet, mit ihr um die Wette zu trinken. Oh, Lenny, drehen in letzter Zeit denn alle Teenager durch?" 

„Nicht alle, ich zum Beispiel...", begann Alany sich zu verteidigen, doch sie verstummte, als sie Jamies berüchtigtes Grinsen sah. Jetzt wusste sie, worauf er hinauswollte. „Du bist gemein! Zuerst erzählst du mir, dass meine Cousine und meine beste Freundin im Krankenhaus liegen und fünf Minuten später ziehst du mich mit Milan auf!", brachte sie hervor, bevor sie in Tränen ausbrach. Auf einmal stürzte ihr die Decke auf den Kopf. Sie vermisste das Zusammenleben mit ihrem Onkel, ihrer Tante, Alex und sogar Mariah, am Nachmittag hatte sich die Erinnerung an ihre abwesende Mutter aufgedrängt und zudem musste sie mit ihren Gefühlen für Milan fertig werden. Jamies schnippische Bemerkung war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Sichtlich geschockt von den Konsequenzen seiner Neckerei schlang Jamie nun seine Arme um Alany und drückte ihren Kopf gegen seine Brust, wie er es getan hatte, als sie ein Baby gewesen war. Alany erinnerte sich, dass Tante Caroline ihr erzählt hatte, dass es manchmal den Anschein erweckt hatte, Jamie knuddele sein Baby, um sich von der Welt draußen abzuschotten. Die Welt „draußen" umfasste Freunde, Bekannte und die (klatschsüchtigen) Nachbarn, die schlecht über ihren Vater geredet und ihm Vorwürfe gemacht hatten. Auch Jamie hatte ihr in einem seiner sentimentalen Momente gestanden, dass er froh gewesen war, diesem „kleinen, unschuldigen Ding" seine Liebe schenken zu können, als er den Rest der Welt aus tiefster Seele gehasst hatte. „Du hast mich abgöttisch geliebt und dich nicht darum geschert, dass ich ein alleinerziehender Teenie-Vater war", erklärte er ihr stets, wenn er von ‚den alten Zeiten' sprach.  Damals war Alany, ohne es zu wissen, für ihren Vater dagewesen und nun war er für sie da. 

„Manchmal fragt man sich, ob die Desaster im Leben jemals ein Ende nehmen!", murmelte Jamie, während er seinen Arm um Alany legte. „Als Teenager tritt man von einem Fettnäpfchen ins Nächste. Meine Biolehrerin Mrs. Weintraub, übrigens die Biolehrerin, in deren Stunde ich deine Mutter zum ersten Mal gesehen habe, sagte immer Ich bereue es nicht, nicht mehr jung zu sein, denn als junger Mensch muss man viele schlechte Erfahrungen machen, bevor man sein Glück findet."

Jamie machte eine kurze Pause. Anscheinend machte die Aussage seiner alten Biologielehrerin ihn nachdenklich. „Früher habe ich nie verstanden, was sie damit sagen wollte, denn für mich gab es nichts Schöneres als jung zu sein. Für mich gaben Partys, Spaß und Alkohol dem Leben erst einen Sinn." Jamie schüttelte den Kopf, so als schäme er sich abgrundtief für seine damaligen Gedanken. „Erwachsen zu sein war meine persönliche Vorstellung von der Hölle auf Erden. Meiner Meinung nach gab es da nichts als Regeln und Verpflichtungen, Sorgen und Ängste. Dass auch ein Quälgeist wie du darin auftauchen könnte, ist mir damals nicht in den Sinn gekommen."

Nun musste Alany doch schmunzeln. „Was hat dich denn davon überzeugt, dass Erwachsensein kein Weltuntergang ist?", wollte sie wissen.

„Die erste Zeit mit dir war dermaßen hart, dass ich überglücklich war, als du endlich stubenrein warst!", scherzte Jamie und lachte. Obwohl Alany noch sauer war, weil ihr Vater sich bezüglich ihrer Gefühle wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten hatte, stimmte sie in sein Lachen ein. Inzwischen fühlte sie sich bedeutend besser. „OK, ich verrate dir die Wahrheit: Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass ich in meiner Jugend über die Stränge geschlagen habe, weil ich durcheinander war. Ich wusste nicht, wer ich bin und fühlte mich nirgendwo zugehörig. Wenn du zu nichts und niemandem passt, wirst du automatisch zum Rebellen, ob du willst oder nicht. Und ich wollte es sogar", fügte er fast entschuldigend hinzu. „Mit deiner Geburt wurde mein Leben noch chaotischer, aber jetzt, da ich zweiunddreißig bin, verläuft es in geordneten Bahnen. Die Aufgabe, dich großzuziehen, meine Arbeit und gute Freunde, auf die ich mich verlassen kann, haben mein Bedürfnis zu rebellieren ausgelöscht."

„Das klingt wie das Happy End eines Groschenromans", murmelte Alany und kuschelte sich, die Augen fest geschlossen, an ihren Vater. „Ich entwickle mich ständig weiter", ereiferte sich der und sprach weiter. Langsam schien ihm die Schilderung seines Lebenswandels Spaß zu machen. „Seit dem Auszug trete ich sogar Richard als selbständiger Mann gegenüber, und nicht mehr als jemand, von seinem Bruder gebabysittet werden muss."

„Und du willst mir mit dieser langen Moralpredigt sagen, dass..." Jamies beruhigende Worte hatten Alany schläfrig gemacht, sodass sie sich bemühen musste, nicht auf der Stelle einzuschlafen.

„... Teenager zu bemitleiden sind und niemand dir die typischen Gefühlsschwankungen abnehmen oder die Löcher in deinem Kopf stopfen kann", vollendete Jamie den Satz und verstrubbelte Alanys Haar. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht bezüglich meiner Schlussbilanz für dich! Welche willst du zuerst hören?"

„Die Gute", nuschelte Alany im Halbschlaf.

„Ich werde dir den Weg freiboxen, so oft es geht."

„Das ist schön. Und die Schlechte?"

„Es wird Entscheidungen geben, die du allein treffen musst. Und manchmal wirst du wegen diesen Entscheidungen die Krise kriegen."

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now